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Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Autoren: Peter Wensierski
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das wirklich schaffen, unbehelligt, unbemerkt?
    Der Gedanke ließ sie nicht mehr los.
    Als sie fertig waren, war es erst kurz vor acht. Nicht spät genug, um den Abend schon enden zu lassen.
    Wir könnten noch zusammen einen Tee trinken, ich lad’ dich ein, wenn du Lust hast, meinte Jens.
    Gern , sagte Marie. Aber wo?
    Jens überlegte.
    Wo musst du denn nachher hin?
    Nach Pankow. Und du?
    In den Prenzlauer Berg.
    Da kenne ich eine nette neue Teestube, wo wir hingehen könnten, schlug Marie vor.
    Sie fuhren mit der Straßenbahn die Prenzlauer Allee hinunter. An der S-Bahn-Station stiegen sie aus und gingen zu Fuß weiter. Die Straße war nur spärlich beleuchtet, denn einige der Gaslaternen waren defekt. Es war Winter, an den Straßenrändern lagen zusammengeschobene Schneehaufen. Kalter Nebel lag in der Luft, es roch nach schwefliger Braunkohle. Vor der Teestube stellten sie fest, dass sie geschlossen hatte.
    Einen Tee kann ich dir auch machen, sagte Jens.
    Als sie in die Rykestraße einbogen, fiel ihm ein, dass seine Wohnung sicher kalt war. Die Kohlen vom vergangenem Winter waren längst verheizt und der Händler im Hinterhof mit seiner Lieferung in Verzug, heute Morgen hatte er die letzten fünf Briketts in den Kachelofen gesteckt. Nicht genug, um die hohen Räume warmzuhalten.
    Am Ende der Straße zeichnete sich die Silhouette eines Turms gegen den dunklen Himmel ab. Es war der alte Wasserturm von Prenzlauer Berg, ein düsterer Backsteinbau. Jens wohnte nur wenige Schritte davon entfernt.
    Kurz vor dem Haus bemerkte er den am Straßenrand abgestellten Lkw-Anhänger des Kohlenhändlers. Rasch hob er die Plane an einer Ecke an. Er brauchte nichts zu sagen. Marie griff zu und stapelte so viele Briketts wie möglich in seine Hände.
    Ohne Hast gingen die beiden zur Haustür und drückten sie auf. Jens’ Wohnung lag im ersten Stock, die Küche ging zum Hinterhof, das einzige Zimmer zur Straße. Die Außentoilette war eine halbe Treppe tiefer.
    Als sie vor seiner Wohnungstür standen, sahen sie sich einen Moment lang schweigend an. Jens, die Hände voller Briketts, bat Marie, die Wohnung mit dem Schlüssel aus seiner Jackentasche aufzuschließen. Sie öffnete die Tür und suchte im Flur nach dem Licht.
    Jens ging an ihr vorbei in das Zimmer, in dem er schlief und arbeitete. Marie folgte ihm.
    Ihr Blick fiel auf das Bett, dann auf die Landkarte, die darüber an der Wand hing. Sie zeigte die gesamte Sowjetunion mit allen angrenzenden Ländern. Gegenüber standen ein altes Sofa, ein abgenutzter Schreibtisch, ein Spiegel. Daneben ein großes Bücherregal. Eines der Bücher lag aufgeschlagen auf dem Bett, Stefan Zweigs »Die Welt von Gestern«. Im Regal befand sich auch der einzige Luxusgegenstand, den sie entdecken konnte, ein Tesla-Tonbandgerät, dazu ein paar Spulen.
    P. Floyd, Leonard Cohen und Angelo Branduardi konnte sie lesen.
    Jens hockte sich vor den großen, hellbraunen Kachelofen und schichtete darin kleine Holzscheite auf Zeitungspapier. Die Briketts hatte er neben dem Ofen abgelegt. Sie bemerkte die riesige Holzkiste vor dem Kachelofen, so groß, dass man bequem darauf schlafen konnte. Jens erzählte ihr, dass er die Kiste von seinem Vater habe. In solchen Verpackungen erhielt dessen Betrieb Autoersatzteile geliefert. Er hob die dicke braune Decke, die gefaltet auf der Kiste lag, etwas hoch und zeigte ihr die russische Inschrift: Für Moskwitsch und Wolga.
    Marie las die kyrillischen Worte: DDR , Bralitz-Oderberg, Kontrakt Nummer …
    Bralitz ist der Umschlagplatz für russische Autos, erklärte Jens.
    Er zündete ein Streichholz an und hielt es an die Zeitung im Ofen. Das Zimmer war eiskalt. Marie rieb sich mit den Händen über die Oberarme.
    Jens ging in die Küche und machte alle Gasflammen an, um wenigstens die Luft etwas zu erwärmen und um den versprochenen Tee aufzugießen. Marie war ihm gefolgt und sah sich auch hier um. Das Licht kam von einer nackten Glühbirne, die von der Decke baumelte. Um einen runden Esstisch standen umgedrehte Obstkisten, die offenbar als Stühle dienten. Als Regalersatz hatte Jens eine BaKo-Kiste an der Wand befestigt, eine Holzkiste des Berliner Backwarenkombinats, in der er seinen Tee aufbewahrte. Marie staunte über die große Auswahl. Viele der Teesorten stammten aus Russland und Asien, einige auch aus dem Westen.
    Jens bat sie, sich einen Tee auszusuchen.
    Aus dem Wohnzimmer hörte Marie nun das Feuer im Kachelofen knistern. Jens war mit dem Teekochen beschäftigt, sie
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