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Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Autoren: Peter Wensierski
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Gelände Wohnungen zu bauen, gab es unerwartete Proteste nicht nur der Prenzlauer-Berg-Bewohner. Es hagelte Beschwerdebriefe, die offiziell Eingaben hießen. Flugblätter und Aufkleber tauchten auf, alternative Ideen für eine Weiternutzung des Backsteinbaus als Zirkus oder Versammlungsort wurden diskutiert, und in zahlreichen Schaufenstern stand plötzlich kommentarlos ein Foto des Gasometers. Am Ende ließ die Staatsmacht den Bau, an dem die Menschen hingen, dennoch in die Luft sprengen, alle Spuren der alten Industrieanlage beseitigen. An seiner Stelle wurden Plattenbauten sowie ein riesiges Denkmal für den Arbeiterführer Ernst Thälmann errichtet. Alle anderen Abrisspläne für den Prenzlauer Berg blieben fortan allerdings in der Schublade.
    Die Wohnungen in den heruntergekommenen Häusern hatten oft jahrelang leer gestanden, bevor sie wieder in Besitz genommen wurden, und mussten von den jungen Leuten, die kaum Geld hatten, durch Eigeninitiative und Eigenarbeit erst bewohnbar gemacht werden. Eine Mischung aus schweren, alten Sesseln und Sofas, Selbstgebasteltem und Selbstgestrichenem, aus Sperrmüll und Sperrholz hielt Einzug in die verwaisten Altbauten.
    Die Sperrmüllcontainer in den Straßen, die nur selten von der Stadtreinigung geleert wurden, waren wichtige Umschlagplätze, Stätten eines regen Tauschhandels. Was dort jemand ablegte, war nicht selten nach wenigen Minuten schon weg. Manchmal traf man sich gleichzeitig und tauschte seine Lampe direkt gegen einen Sessel, den gerade jemand anderes anschleppte.
    Ein spezieller Wohnstil entstand so, ganz ohne Blümchentapeten, Schrankwand und Couchgarnituren.
    Das Bücherregal war oft der Mittelpunkt der Ein- oder Zweiraumwohnungen. Es war die Schatztruhe der Bewohner mit Werken von Sartre, Kafka, Dostojewski oder Gedichtbänden von Heinrich Heine und Eva Strittmatter. Wichtig waren auch Kerzen, die bei jeder Gelegenheit angezündet wurden. Wenn es Kaffee statt Tee gab, wurde der »türkisch« aufgegossen. Ohne Filter, direkt in der Tasse, und man wartete geduldig, bis sich das Kaffeepulver langsam wieder am Boden absetzte.
    So gut wie keine Wohnung hatte einen Telefonanschluss. Man verabredete sich nicht ständig im Voraus, man kam einfach vorbei und probierte auf gut Glück, ob jemand da war. Und wenn niemand öffnete, hinterließ man eine Nachricht auf einem Zettelblock oder einer Kassenrolle, die an der Tür hing, aber oft war sie auch mit Kreide direkt auf die Tür oder eine Tafel geschrieben.
    In den Treppenhäusern von Prenzlauer Berg waren die Wohnungstüren übersät mit Besuchernotizen: Grüße von Ev, war hier und schaue morgen noch mal vorbei – Kommt Samstagabend zu uns in die Fehrbelliner! Tom – Meldet Euch bei mir, wenn Ihr in Naumburg seid, Eure Friederike …
    Auch Marie und Jens hatten eine Papierrolle und einen Stift an einem Faden an ihrer Wohnungstür angebracht. Daneben ein Namensschild mit Vögeln, die Kreise um ihre Nachnamen zogen.
    DIE FASSADEN der Häuser sahen zwar nach außen grau und trostlos aus und der Verfall ließ sich nicht grundsätzlich stoppen, doch in den Wohnungen spielte sich, wenn es glückte, ein buntes Leben ab.
    Die Gespräche in den vier Wänden wurden schnell philosophisch und drehten sich dann um das, was man machen würde, wenn man könnte, wenn das Leben nicht innerhalb eines so begrenzten Bewegungsradius ablaufen würde.
    Am wichtigsten waren die Freunde. Alle verwendeten viel Zeit darauf, sich gegenseitig zu besuchen, einander lange Briefe zu schreiben, miteinander zu reden. Das Gespräch der Jungen war der gelebte Gegensatz zur Sprachlosigkeit, die im Rest der Gesellschaft herrschte.
    Sie waren bei den Eltern ausgezogen, um selbständig zu sein. Doch ihr Erfahrungshunger stieß in dem engen Land immer wieder an Grenzen. Aber wenigstens hier, in Prenzlauer Berg, wollten sie ihre Nische, ihren Freiraum haben. Sie wollten Musik hören oder am liebsten gleich selber machen. Sie wollten kreativ sein, ohne dass ihnen jemand reinredete. Sie wollten Farbe und Abwechslung in ihr Leben lassen. Sie wollten ein halbwegs richtiges Leben im falschen.
    Es waren mitunter eindrucksvolle Selbstinszenierungen, die sie vor jener Erniedrigung, Resignation oder Selbstaufgabe schützen sollten, die sie bei anderen Menschen im Land erlebten. Deren Ohnmacht, die Art, wie sie sich bis ans Lebensende in den Verhältnissen einrichteten, die Anpassung an das System um jeden Preis wollten sie hinter sich lassen. Oder es zumindest
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