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Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Autoren: Peter Wensierski
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stehen geblieben waren. An einer langen Ziegelmauer stießen sie auf einen Friseur, der sein Handwerk im Freien ausübte. Seine wenigen Werkzeuge hingen an der Mauer, seine Kunden saßen auf einer Kiste, darin ließ der Mann nach getaner Arbeit seinen kompletten »Laden« verschwinden. Die Männer seifte er mit Wasser aus einer Thermoskanne ein und rasierte sie gekonnt mit seiner scharfen Klinge.
    Am nächsten Tag gingen sie durch die Gassen eines anderen Ortes, in denen die zur Straße hin gelegenen Räume der Häuser wegen der großen Hitze völlig offen waren. Sie wurden als Werkstätten genutzt, in der Deckenmitte drehte sich ein Ventilator und an den Wänden hingen bunte Revolutionsplakate.
    In einer dieser Werkstätten arbeitete man zu sechst an Nähmaschinen, die mit Füßen angetrieben wurden. Im Haus daneben färbten Frauen Stoffe, sie hatten Zinkwannen mit bunten Flüssigkeiten gefüllt, die einen unangenehmen süßlichen Geruch verströmten.
    Ein paar Schritte weiter die Gasse hinunter sahen sie einen Lebensmittelladen, dessen Regal vor allem mit Konserven gefüllt war. Auf der Theke standen Glasballons mit Nudeln, Reis und Getreide. Ein etwa zwölfjähriger Junge, der allein anwesend war, lag in einem Stuhl zwischen Kartons und döste.
    Auf den Straßen balancierten Träger auf ihren Schultern Lasten in Körben, die sie vorne und hinten an lange, wippende Bambusstangen hängten. Esel zogen hoch beladene Karren hinter sich her, Marie und Jens folgten ihnen, bis sie auf einem Marktplatz standen. Dort wurden auch Katzen, Hunde, lebende Schildkröten und andere Tiere, die in engen Käfigen verstaut waren, verkauft. Wer lebende Hühner erworben hatte, band ihre Füße zusammen, hängte das Federvieh mit dem Kopf nach unten an den Lenker seines Fahrrades und fuhr los.
    Dieses Markttreiben zog sie nicht an.
    Schöner fanden sie einen Platz, den sie in einem anderen Teil der Stadt entdeckten, mit Bambushain, Steingärten und blühenden Hibiskussträuchern, deren Blüten so groß waren, dass sie die Pflanze kaum wiedererkannten.
    Im Park saßen junge Paare auf Bänken, verstohlen Händchen haltend. Hinter einem Goldfischteich entdeckte Marie segelnde Schmetterlinge, die sich von der Luft weit tragen ließen, ohne mit ihren Flügeln zu schlagen.
    Sie lief ihnen hinterher.
    IMMER WIEDER ging es zurück aufs Schiff. Von dort aus sahen Marie und Jens die in vielen Terrassen angelegten Tabak- und Reisfelder. Die steilen Hügel sind ganz schön schwer zu bewirtschaften, dachte Marie. Etwas anderes erschreckte sie sehr: dünne, hohe Bäume, die bis auf die Krone keine Äste mehr hatten. Die unteren Äste waren offensichtlich bereits zu Brennholz verarbeitet worden. Manche Hügel wirkten geradezu gespenstisch.
    Ihnen fiel auf, dass überall gebaut wurde. Kräne drehten sich, und mehrstöckige Wohnhäuser wuchsen empor.
    Am Flussufer direkt unterhalb der Siedlungen mündeten die Abwasserkanäle in den Strom. Neben den Rohren spielten Kinder mit luftgefüllten Gummischläuchen im Wasser, ein paar Meter weiter trieben Bauern ihre Rinder zum Fluss. Entlang der Uferstraße hausten Menschen in Holzverschlägen. Aus denen kamen alte, bucklige Menschen, wenn Boote mit Baumaterial entladen werden mussten. Einen Kran gab es dort nicht und kräftige junge Männer offenbar auch nicht.
    Diese fremde Welt, von der sie vor der Reise keine Vorstellung gehabt hatte, faszinierte Marie und machte sie gleichzeitig traurig. Nach der Weite der Steppe, der Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Nomaden empfand sie China als eine beengende und harte Gesellschaft, in der die Einzelnen keine große Rolle spielten und ständig um ihren Platz kämpfen mussten.
    Wenn Marie mit Jens abends auf dem Schiff unter Deck ging und mit mehr als einem Dutzend anderen Menschen zusammenlag, begann sie sich nach Hause zu sehnen.
    Nachdem sie den Jangtsekiang verlassen hatten, bewegten sie sich wieder auf dem Landweg. Sie brauchten ihr Geld für Bus- und Eisenbahn und versuchten, es an anderer Stelle einzusparen. Statt zu zweit in einem Einzelbett in den Schlafsälen der einfachen Herbergen übernachteten sie, wenn sie keiner verscheuchte, auf den Dächern von Hotels.
    AN EINEM ABEND saßen sie auf einem Hoteldach in Schanghai und sahen dem Sonnenuntergang zu. Sie waren den ganzen Tag durch das Zentrum der Handelsstadt mit ihren alten Holzhäusern und verwinkelten Gassen gelaufen. Sie waren die lange Uferpromenade Schanghais, »Bund« genannt, mit europäisch
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