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Die verborgene Seite des Mondes

Die verborgene Seite des Mondes

Titel: Die verborgene Seite des Mondes
Autoren: Antje Babendererde
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Arbeitsschuhe und zerbeulte braune Cord hosen, die von breiten Hosenträgern gehalten wurden. Kräftige braune Arme schauten aus aufgekrempelten Hemdsärmeln hervor. Das kurz geschnittene Haar des Mannes stand silbergrau vom mäch tigen Schädel, die dunkle Haut seines Gesichts war die eines Men schen, der ein Leben lang im Freien gearbeitet hat. Um seine Augen zogen sich helle Lachfältchen.
    Das war Boyd Temoke, Julias Großvater. Sie kannte ihn von den Fotos, die ihr Vater ihr gezeigt hatte. »Hallo, Hanna«, sagte er und reichte ihrer Mutter die Hand. »Willkommen auf der Ranch.« Dann erschien ein freundliches Lächeln auf seinem dunklen Gesicht. »Und du musst Julia sein, meine Enkeltochter.«
    Er sagte das mit unerwarteter Wärme und Julias Anspannung löste sich ein wenig. Ihre Hand verschwand in seiner großen Pranke und sie erwiderte, so gut sie konnte, seinen kräftigen Händedruck. »Hal lo, Grandpa«, sagte sie schüchtern. Da nahm Boyd sie fest in die Ar me. Der Duft von Heu, Kühen und Motoröl stieg ihr in die Nase, aber auch der eines alten Mannes. Merkwürdigerweise störte es Julia nicht, dass ihr Großvater sie umarmte.
    »Willkommen auf der Ranch, Julia. Ich hoffe, Tommy hat euch nicht zu sehr erschreckt. Er hat keinen guten Tag heute. Ada ist am Vormittag in die Stadt gefahren und noch nicht zurück. Tommy ver misst seine Granny, er mag es nicht, wenn sie weg ist. Aber viel leicht hat er ja auch Hunger. Lasst uns ins Haus gehen, damit ich ihn füttern kann.«
    Ein alter Mischlingshund mit braun-schwarzem Fell kam schwanz wedelnd auf sie zu.
    »Das ist Loui-Loui«, sagte Boyd. »Der ist so alt wie ich.« Er grinste.
    Der Hund stupste Julia mit der feuchten Schnauze am Bein und sie streichelte sein langhaariges Fell, das staubig und voller Kletten war. »Hallo Loui-Loui«, sagte sie. »Ich bin Julia.«
    Hanna begann die Lebensmittel auszuladen und ins Haus zu tra gen. Der alte Mann öffnete die Fahrertür des Trucks und ging in die Knie, damit Tommy die Arme um seinen Hals legen konnte. Hucke pack trug er den behinderten Jungen ins Haus.
    Erst jetzt sah Julia, dass Tommy hochgezogene knochige Schul tern und dünne, verwachsene Beine hatte. Seine Füße, mit denen er niemals Schritte machen würde, glichen verdrehten Klumpen. Tom mys ganzer Körper schien unter einer unheimlichen Spannung zu stehen, als ob seine verzerrten Gliedmaßen jeden Augenblick in ih re natürliche Lage schnellen wollten.
    Boyd und Hanna verschwanden im Haus. Julia schnappte sich eine Kiste mit Lebensmitteln und lief ihnen hinterher. Im kleinen Flur hinter der Eingangstür standen Müllsäcke und es roch unangenehm nach vollgepinkelten Windeln. Jacken hingen an der Wand und staubige Schuhe standen in einem Holzregal.
    Drinnen herrschte diffuses Dämmerlicht, wofür die Plastikfolie vor den Fenstern verantwortlich war. Wohnraum und Küche waren durch einen breiten, offenen Durchgang verbunden. Der alte Mann schaltete in beiden Räumen das Licht an. Es kam aus verstaubten Glühbirnen, die an Kabeln von der Decke baumelten.
    In der Küche stand ein uralter gusseiserner Holzherd mit Töpfen und Pfannen darauf. Die Hängeschränke an der Fensterfront und über der Spüle waren aus lackiertem Sperrholz gezimmert und sa hen schäbig aus. Teile der Deckenverkleidung hatten sich gelöst und die Isolierung aus gelbgrauen Glasfasermatten hing an einigen Stellen lose herunter. Überall in den Ecken entdeckte Julia klebrige graue Spinnweben.
    Vielleicht merkt man das alles nicht mehr, wenn man viele Jahre so lebt, dachte sie voller Unbehagen. Aber was war mit ihrem Vater ge wesen? Wie musste er sich gefühlt haben, wenn er hierhergekom men war?
    Der alte Mann ließ Tommy auf einen Küchenstuhl gleiten, dessen Vinylbezug mit grauem Klebeband geflickt war.
    »Wenn ihr Hunger habt oder Durst«, sagte er, »im Kühlschrank ist etwas zu essen und in der Kanne ist Kool Aid.« Er deutete auf eine al te Plastikkanne mit einer knallroten Flüssigkeit.
    Julia hatte Durst und fragte ihren Großvater, wo sie ein Glas fin den konnte. Boyd reagierte nicht. Er hatte für Tommy ein Babygläs chen mit Bananenbrei geöffnet und fütterte ihn. Tommy sperrte den Schnabel auf wie ein hungriges Vogeljunges. Er rieb sich mit den schmutzigen Händen über die blinden Augen, brabbelte und machte gurgelnde Geräusche, die Julia immer wieder zu ihrem schwerbehinderten Cousin hinsehen ließen. Dabei entdeckte sie auch, dass seine braunen Unterarme von hellen Narben
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