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Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Titel: Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Autoren: Aurélien Molas
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hielt sich immer kerzengerade, und seine Kopfhaltung hatte etwas Hochmütiges. Als ihm Benjamin das erste Mal begegnet war – in der Nähe von Sarajevo, inmitten der Wirren des Bosnienkriegs – , hatte er geglaubt, einen englischen Adligen, der nicht mehr zum Hotel Ritz zurückfand, vor sich zu haben.
    Sie waren seit über acht Stunden auf der Straße unterwegs, als das Autoradio endlich einen Sender empfing und ein alter Disco-Hit aus den knisternden Lautsprechern ertönte. Jacques drehte sich um und hielt Benjamin eine Zigarette hin.
    »Ich hab in der Disco zu dieser Musik getanzt«, sagte er und blies den Rauch aus. »Ich hab das gehört, als ich meine erste Vertretung machte, das muss Ende der Siebzigerjahre gewesen sein … «
    »Wo hast du die gemacht?«
    »Im hintersten Winkel des Departements Gers, in der Nähe von Auch. Ich hab mich ein gutes Dutzend Mal verfahren, ehe ich den Arzt gefunden habe, den ich vertreten sollte.« Er öffnete das Fenster einen Spalt weit und klopfte leicht auf den Filter seiner Kippe. Funken zerstoben in der Nacht. »Mein erster Tag, ganz auf mich allein gestellt. Eine Mutter kommt mit ihrem Jungen in die Praxis. Der Junge zeigt die Symptome einer schweren Bronchitis, verschlimmert durch einen Schnupfen. Im Grunde nichts Schlimmes. Ich verschreibe ihm Zäpfchen und ein Mittel für Inhalationen, damit die Atemwege frei werden. Nach einer Woche ruft mich die Mutter an. Sie ist völlig panisch und sagt mit tränenerstickter Stimme, ihr Junge liege wegen der Medikamente, die ich ihm verordnet hätte, im Sterben. Ich müsse so schnell wie möglich kommen.« Jacques wandte sich zu Benjamin um. »Stell dir vor, ich rase mit einem Affenzahn über die Straßen des Departements Gers, in dem festen Glauben, ich hätte gerade meinen ersten Patienten umgebracht. Und noch dazu einen Jungen. Mit zugeschnürter Kehle treffe ich bei ihnen ein, und die Mutter führt mich sofort in das Zimmer des Kleinen. Seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er fünf Kilo verloren, und er atmet wie ein Raucher mit durchlöcherter Lunge. Ich horche ihn ab, so gut es geht. Meine Hände zittern so stark, dass es mir nicht mal gelingt, das Bruststück des Stethoskops am Rücken anzusetzen. Und da sehe ich etwas leuchtend Gelbgrünes, das aus seiner Nase rinnt. Aber das war kein Schleim, es sah aus wie Wachs … «
    »Nein.«
    Das schelmische Grinsen des Missionschefs von MSF wurde breiter.
    »Doch! Die Mutter steckte ihm jeden Morgen die Zäpfchen in die Nase, in dem Glauben, sie könnte dadurch dafür sorgen, dass sie nicht mehr läuft! Der Junge konnte nicht mehr atmen, und der Geschmack der Zäpfchen ließ ihn jedes Mal, wenn er etwas zu sich nahm, erbrechen.«
    »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen!«
    »Glaub, was du willst, aber ich schwöre, genau so war es.«

6
    »Wir sind da«, sagte der Fahrer und deutete mit dem Finger auf einen Drahtzaun am Ende der Piste.
    Ein elektrischer Generator versorgte den Stacheldrahtzaun um das Barackenlager mit Strom. Brachliegende Wiesen wurden von starken Scheinwerfern beleuchtet, ähnlich denen, die auf Gefängnisdächern montiert sind.
    »Was ist das denn?«, sagte Jacques. »Ein Waisenhaus oder eine Kaserne?«
    Benjamin antwortete nicht. Mit gerunzelter Stirn musterte er die Gebäude und die beiden Wachhäuschen, die das Tor flankierten, das angeblich den Zugang zum Waisenhaus der Petits Frères du Peuple sicherte.
    »Bist du dir sicher, dass du dich nicht vertan hast?«, bohrte Jacques nach.
    »Vollkommen sicher, Chef«, antwortete der Fahrer und bremste.
    Im Rückspiegel wechselten die beiden Ärzte einen besorgten Blick.
    »Was wissen wir über diese Einrichtung?«
    »Nicht viel. Bis 2004 haben sich katholische Priester darum gekümmert. Aber die Regierung hat sie vor die Tür gesetzt. Seither hat der Staat wieder die Leitung des Waisenhauses übernommen.«
    Seit dem Beginn ihrer Rundreise hatten sie Dutzende von Heimen gesehen, aber keines wie dieses da. Wo sie einige wacklige Häuschen mit heruntergekommenen Schlafsälen erwartet hatten, in denen die Kinder zusammengepfercht waren, entdeckten sie eine Reihe von Betongebäuden und zwei bewaffnete Wachposten, die ihnen bedeuteten, anzuhalten.
    »Wo sind wir denn hier hingeraten?«, brummte Benjamin, während er die Scheibe herunterließ.

7
    Zehn Dollar und zwei Schachteln Zigaretten hatten die Wachposten schließlich davon überzeugt, den Direktor zu wecken. An der Art, wie sie ständig zum Himmel spähten,
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