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Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Titel: Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Autoren: Aurélien Molas
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Guerillakämpfer
    »… der Mensch ist wie die Zeit.«
    William Shakespeare, König Lear

5
    Die Reifen des Geländewagens schlitterten in eine Pfütze, braunes Wasser bespritzte die weiße Karosserie. Vorne, über der Motorhaube, flatterte der verdreckte Wimpel von Médecins Sans Frontières . Das graue Scheinwerferlicht glitt über die von Schlaglöchern übersäte Piste und die blauen Nebelschwaden, die über den Sümpfen hingen. Entlang der Steilufer verrotteten Fischerhütten, die von dichtem Buschwerk umwuchert wurden. Einige schlichte Holzbarken waren kaum von den Mangroven und den halb untergetauchten Baumstämmen zu unterscheiden.
    Hin und wieder sahen die beiden Ärzte und ihr Fahrer die Lichter einer Ölförderanlage, die verloren im Delta lag. Der Land Rover Defender fuhr an einer moosbewachsenen verrosteten Pipeline entlang, aus der eine schwärzliche Flüssigkeit in den Wasserlauf sickerte. Ringsherum lag der afrikanische Dschungel im Sterben. Die Bäume waren nackt, geradezu gespenstisch weiß, und glichen Knochen, die für irgendein kultisches Ritual in die Erde gerammt worden waren.
    Benjamin Dufrais verrenkte sich auf der Rückbank, um eine Flasche Wasser aus der Kühltasche zu holen. Im Kofferraum rutschten Kisten mit Medikamenten und Kühlboxen mit Impfstoffen bei jeder Kurve sanft von einer auf die andere Seite. Er ließ sich schwer auf seinen Sitz zurückfallen und spürte, wie seine Wirbel knackten, bevor der Schmerz bis zur Schulter aufstieg.
    Benjamin hörte vage, irgendwo über dem Wald, ein metallisches Dröhnen, das sich auf sie zu bewegte. Die Wipfel der Bäume schwankten wild hin und her, als würde sich ein Tornado im Zentrum des Nigerdeltas zusammenbrauen.
    »Was ist denn das für ein Krach?«
    Jacques Rougée, der Einsatzleiter von MSF , beugte sich dicht an die Windschutzscheibe vor und suchte im nächtlichen Himmel das, was die Stille, die über der Lagune lag, zerriss. Benjamin sah etwas Dunkles, das in niedriger Höhe flog. Drei grellrote Lichtpunkte blinkten unter dem Rumpf der Maschine, und er erkannte klar und deutlich die Maschinengewehre im vorderen Bereich und die Silhouetten der Piloten, die im Innern des Cockpits in ein grün phosphoreszierendes Licht gehüllt waren. Die vier Propeller der Maschine zeichneten große konzentrische Kreise auf die Oberfläche der Sümpfe, ehe sie in der Finsternis verschwand.
    »Das ist schon der zweite Hubschrauber, der vorbeifliegt. Vielleicht eine militärische Übung«, sagte er und setzte die Wasserflasche an den Mund.
    Jacques Rougée blieb stumm und spähte in die Finsternis, die die Maschine verschlungen hatte. Er griff nach einer Schachtel Zigaretten, die auf dem Armaturenbrett lag, und drückte auf den Zigarettenanzünder.
    »Ist es noch weit?«, fragte er den Fahrer.
    »Noch ein paar Kilometer.«
    Benjamin lehnte sich gegen die Rückbank und unterdrückte ein Gähnen. Wieder hatte er einen ganzen Tag im Auto gesessen – zu den davon verursachten Gliederschmerzen kam jetzt noch der Schlafmangel. Seit er seinen Beruf als Militärarzt an den Nagel gehängt hatte, um sich ganz für MSF zu engagieren, hatte er das Gefühl, schneller zu altern. Und bei einem Blick auf sein Spiegelbild in der Scheibe wurde ihm klar, dass dies nicht nur ein Eindruck war.
    Mit seinen markanten Wangenknochen, seinem Dreitagebart, seinen fein geschnittenen, fast femininen Lippen und den verschiedenfarbigen Augen – das eine hellgrün, mit leuchtend blauen Einsprengseln, das andere rußschwarz – glich er einem flüchtigen Häftling oder einem Hochseefischer, dem die salzige Gischt den Teint verfärbt hatte.
    Doch spürte man in Benjamin Dufrais’ Verhalten, seiner Art, ständig auf der Hut zu sein, eine quecksilbrige Reizbarkeit, die ihn von den anderen unterschied. Eine furchteinflößende Tatkraft erfüllte diesen Mann. Seine ungleichen Augen machten ihn lebendig – das rechte Auge, das glitzerte wie das klare Wasser einer Mittelmeerbucht an einem wolkenlosen Sommertag, und das unergründliche, eiskalte linke Auge, das von einem tiefen Schwarz war.
    Das Klirren des Zigarettenanzünders riss ihn aus der Betrachtung des silbernen Widerscheins des Mondes auf der Wasseroberfläche.
    »Zündest du mir eine an?«, fragte er.
    Jacques klemmte zwei Zigaretten zwischen seine Lippen, und die glühende Metallspirale des Zigarettenanzünders erhellte sein Gesicht. Er hatte grau meliertes Haar und ein fliehendes Kinn aufgrund einer leichten Kieferfehlstellung. Er
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