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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende
Autoren: Kishwar Desai
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    Ich mache es mir im Bett ein wenig bequemer, lümmele mich auf die Seite, wo mein letzter Freund gelegen haben würde. Im Gästezimmer der Polizei von Punjab riecht es nach Rauch. Sobald der Rauch erst einmal in das System der Klimaanlage gedrungen ist, sagt man, kann er dort jahrelang zirkulieren. Genau wie meine paranoiden Zwangsvorstellungen, die es mir unmöglich machen, auch nur das geringste Detail aus meinem Gedächtnis zu verbannen.
    Ich lasse alles immer und immer wieder vor meinem geistigen Auge ablaufen. Wie Rauch verteilt es sich in meinem Kopf. Das Mädchen. Das Untersuchungsgefängnis. Meine Theorie, die gleichzeitig eine Hypothese und ein Albtraum ist. Das Szenario, das ich während der vergangenen drei Monate wieder und wieder einer Prüfung unterzogen habe. Das Einzige, was mich daran verunsichert, ist meine Unfähigkeit, die einzelnen Stücke zusammenzufügen. War dort ein Mann gewesen, ein Fremder, der nicht zum Haus gehörte? Das Mädchen verneint es – und doch ist sie ganz offensichtlich vergewaltigt worden. Oder war es Mord in Notwehr? Hat sie überhaupt jemanden getötet? Haben ihr Bruder oder ihr Vater versucht, sich an ihr zu vergehen? Als man sie fand, war ihr ganzer Körper mit Wunden übersät und voller Blut – ihrem eigenen und dem von so vielen anderen –, so dass es schwierig war, ihr eine Schilderung dessen, was sich zugetragen hatte, zu entlocken, zumal sie ja auch kaum sprechen konnte. Die folgenden drei Monate hat sie im Krankenhaus verbracht und war gerade erst in ein bewachtes Zimmer verlegt worden, in dem sie unter Aufsicht der Justizbehörden stand. Das macht mir Sorgen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass alles einfach zu offensichtlich ist, zu eindeutig. Die Erfahrung lehrt mich, dass wir die Grenzen neu definieren, die Mauern, die unser Denken blockieren, umstoßen müssen. Als Amateurpsychologin und ehrenamtliche Sozialarbeiterin – die trotzdem einen Vollzeitjob macht und sich dafür herablassend als barmherzige Samariterin in inoffiziellen Diensten schimpfen lassen muss – kann ich für dieses vierzehnjährige Waisenkind nur tiefstes Mitleid empfinden. In den vergangenen fünfundzwanzig elenden Jahren habe ich keinen erbärmlicheren Anblick erlebt.
    Ich gehe noch einmal meine Aufzeichnungen durch, lese, dass ihre sämtlichen Familienmitglieder vergiftet aufgefunden worden sind und dass einige der Opfer darüber hinaus noch mit einem Messer erstochen wurden. Da es keine entlastenden Indizien oder Fingerabdrücke gab, war sie zur Hauptverdächtigen erklärt und in polizeiliche Verwahrung genommen worden. Sobald die Polizei ihren Fall abgeschlossen hat, könnte es sehr wohl sein, dass sie jahrelang auf ihren Prozess warten muss. In Indien kommen nur wenige solcher Fälle vor Gericht, ehe nicht mindestens zwanzig Jahre ins Land gegangen sind. Zu diesem Zeitpunkt wäre sie dann vierunddreißig Jahre alt und vermutlich für jegliche Bemühungen, sie zu bessern, unempfänglich – und spätestens dann war sie wahrscheinlich zur Mörderin geworden, falls sie dies bei ihrer Einlieferung ins Gefängnis nicht ohnehin schon gewesen war.
    Ich stecke mir noch eine Zigarette an. Mist, jetzt ist der Strom ausgefallen. Wie halten es die Menschen bloß aus, in diesem verfluchten Land zu leben? Wenn du deine Steuern nicht bezahlst, kriegen sie dich ganz schnell am Arsch, aber du selber bist gegen sie vollkommen machtlos, sobald du erst einmal die verdammten Politiker gewählt hast, die dann in königlichem Luxus leben, während der Rest der Bevölkerung sich glücklich schätzen kann, wenn es ihm gelingt, ein bisschen elektrischen Strom zu organisieren. Ich sehe eine Hochzeit, bei der ich vor Kurzem eingeladen war, noch wie einen Film in HD -Qualität vor mir: Die Tochter der besten Freundin meiner Mutter heiratete den Sohn eines Ministers aus dem Regierungskabinett, eines Staatsministers mit besonderen Aufgaben , um es genau zu sagen. Der Ort, in dem die Hochzeits feier stattfand, war ausgeleuchtet, als gelte es, einem Raumschiff der NASA den Weg zurück zur Erde zu weisen. Mit den Unsummen, auf die sich allein die Miete für die Stromaggregate in den diversen Hotels und Wohnhäusern, in denen gefeiert wurde, belief, hätte man mehrere Hundert gewöhnliche Heimstätten mindestens einige Jahre lang ununterbrochen mit Strom versorgen können.
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