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Die Traenen Des Drachen

Titel: Die Traenen Des Drachen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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Flicken auf ihren Kleidern zu sehr häuften, kauften sie neue Hosen und Jacken beim Schneider unten am Hafen.
    Das Haus, in dem sie wohnten, war eine alte Wirtschaft, in der die Kutscher übernachteten, ehe die Klansfehde begann und der Weg über die Ebene zuwucherte. Hier hatten auch der Vater und Großvater des Böttchers gewohnt und ihre Frauen und Kinder warm durch die Winter gebracht. Wie seine Vorfahren hatte er eine große Familie, und in diesem Sommer hatte seine Frau ihr viertes Kind, ein Mädchen, bekommen.
    Die drei Söhne waren fast immer draußen, denn das kleine Kind war ein richtiger Schreihals. Schon früh am Morgen arbeiteten sie mit ihrem Vater in dem alten Stall, den sie als Werkstatt nutzten. Sie schlugen Stäbe aus den Stämmen, die mit Schiffen von der Ostküste herbeigeschafft worden waren, und spannten sie in den Schraubstock ein, damit sie später in die Eisenringe passten. Sie nagelten Deckel und bohrten Auslasslöcher und rollten die Tonnen dann durch die Gassen der Stadt zu den Seeleuten, Bäckern und all den anderen Händlern Krugants. Des Abends warfen sie Messer auf eine aus Heu gebundene Zielscheibe und übten sich mit Pfeil und Bogen. Manchmal schlenderten sie auch zum Hafen hinunter und lauschten den Geschichten der Seeleute oder sahen zu, wie die Arer ihre Schwerter an den Vertäuungsketten der Schiffe schliffen.
    Meine Geschichte wird von dem ältesten der drei Söhne handeln, einem Jungen, dreizehn Winter alt mit Namen Karain. Solange er sich erinnern konnte, hatte er in der Werkstatt geholfen. Er hatte gelernt, wie er die Holzbalken zuhauen musste, damit das Öl nicht aus den Tonnen rann, wie er die Eisenbänder erhitzen musste, bevor er sie befestigen konnte, und all das andere, das Böttcher wissen müssen. Der Vater hatte mit diesem Jungen mehr Zeit verbracht als mit den beiden anderen zusammen, denn er wollte, dass Karain der beste Handwerker in ganz Krugant wurde. Ihr müsst verstehen, er wusste sehr wohl, dass sein Sohn an keinem anderen Ort in die Lehre hätte gehen können, denn Karain war mit nur drei Fingern an jeder Hand geboren worden. Seine Oberlippe war gespalten, und sein ganzes Gesicht war wie bei einem Tier mit Haaren bedeckt. Doch seine Augen waren blau wie der Himmel.
    »Karain«, sagte der Vater, wenn der Junge über den Hobel gebeugt dastand. »Leg dein Gewicht genau auf das Holz, dann wird der Schnitt gerader.«
    Und wenn sie ihr Tagwerk beendet hatten und sich abends zum Essen um den Tisch versammelten, während die Mutter Brei in die Schalen goss, lobte er ihn und sagte, sodass alle es hören konnten:
    »Heute warst du aufmerksam, Karain. Du hast das Handwerk in deinen Händen.«
    Ich erzähle euch das, damit ihr versteht. Es war keine Boshaftigkeit, die den Böttcher und seine Frau zu dem trieb, was sie später taten.
     
    Ich erinnere mich an den folgenden Tag. Karain und seine Brüder hatten beim Schmied Eisenbänder geholt und stiegen den steilen Segeltrockenhang im Osten der Stadt empor. Wie gewöhnlich trug er die schwerste Last, so wie es sich für den ältesten Sohn gehörte. Er kämpfte damit, die schweren Bänder auf seiner Schulter zu halten, ehe seine Krallenfinger den Halt verloren. Oben auf dem Hang, von wo aus man eine gute Sicht über die Stadt und den Hafen hatte, setzte er seine Last ab. Er konnte die Schiffe sehen, die Mole und das endlose Meer. Zwei Kretter gingen vorbei, warfen einen Blick auf ihn und murmelten sich etwas in ihrer Sprache zu.
    Karain kümmerte sich nicht darum und richtete seinen Blick zum Himmel. War das dort oben ein Rabe? Das schwarze Kreuz schwebte hoch über der Stadt.
    »Schaut mal!« Er deutete nach oben.
    »Ein Krah«, sagte Mir und blinzelte zum Himmel. Der jüngste der Brüder verwendete noch immer für fast alles seine Kinderausdrücke. Er lächelte unter seinem Pony hervor und vergrub die Hände in den Taschen seiner Friesjacke.
    »Rabe!« Arga kratzte sich am Kopf und lachte. »Das heißt Rabe.«
    Karain beobachtete die beiden. Arga hatte genauso dunkle Augen wie Mir, aber er war zwei Jahre älter. Erst vor kurzem hatten sie seinen zehnten Geburtstag gefeiert und Vater hatte ihm so eine bestickte Lederweste geschenkt, wie sie die Erwachsenen tragen. Arga hatte sie heute angezogen, und Karain hätte wetten können, dass sein Bruder sehr stolz war. Jetzt flüsterte er Mir, wie sooft, etwas zu. Die beiden hatten so viele Geheimnisse. Er fühlte sich dann immer ein wenig als Außenstehender. Arga legte Mir die
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