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Die Totensammler

Die Totensammler

Titel: Die Totensammler
Autoren: PAUL CLEAVE
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Gesicht ist schweißgebadet. Als der Schnitt groß genug ist, stecke ich die Röhre hinein.
    Er atmet ein, und die Luft strömt durch den Stift.
    Plötzlich ertönen in der Ferne Sirenen.
    »Die Polizei«, sage ich zu Emma. »Such dir was zum Anziehen. Ich warte hier bei ihm.«
    Emma verlässt das Zimmer. Cooper bleibt, wo er ist. Das Blau in seinem Gesicht weicht allmählich einer gesünderen Farbe.
    »Erinnerst du dich an Natalie Flowers?«, frage ich ihn.
    Er schafft es, zu nicken.
    »Weißt du, wo sie sich befindet?«
    Er schüttelt den Kopf.
    »Nicht die geringste Idee?«
    Er schüttelt erneut den Kopf.
    »Wenn du es wüsstest, würdest du es mir dann sagen?«
    Wieder ein Kopfschütteln.
    »Du hast ihrem Leben eine andere Richtung gegeben, weißt du das?«
    Er nickt.
    »Ihretwegen sterben Menschen, weil du ihr das damals angetan hast. Du bist der letzte Dreck, weißt du das? Und der Rest der Welt wird das erfahren, denn du warst ja so freundlich, Fotos zu machen. Die Leute werden erfahren, dass du ein Vergewaltiger von der übelsten Sorte bist. Ich hab selbst ein paar Monate im Knast verbracht, ich weiß also, wie das ist, aber für Typen wie dich, tja, gibt es dort eine Sonderbehandlung. Verglichen mit dem, was dich dort erwartet, war meine Haftzeit das reinste Picknick. Wenn du mir bei der Suche nach Natalie hilfst, schaue ich vielleicht, was sich machen lässt. Vielleicht musst du dann nicht jeden Tag auf einem Eisbeutel sitzen, um deine Schwellung zu kühlen.«
    Er hebt ein wenig die Hand und signalisiert, dass er etwas aufschreiben will. Jeder seiner Atemzüge wird von einem dumpfen Pfeifen aus dem Kugelschreiber begleitet. Ich greife nach der Mine von dem kaputten Stift und drücke sie ihm zusammen mit dem Rätselbuch in die Hand. Er neigt es in seine Richtung und fängt an zu schreiben, dann legt er den Stift beiseite. Und ich nehme ihm das Buch aus der Hand.
    Er hat Fick dich an den Rand geschrieben. Ich schaue auf ihn herab, und er grinst. Dann greift er nach dem Plastikröhrchen und zieht es heraus.
    Für zehn Sekunden verweilt das Lächeln in seinem Gesicht. Er ist Herr der Lage, Herr seines Schicksals, Herr über den Aus gang dieser Situation. Er entzieht sich dem Gefängnis, der Verantwortung, entzieht sich dem Medienrummel. Lieber stirbt er, als sich den Erniedrigungen auszusetzen, die ihn unter seinesgleichen erwartet hätten. Man kann es deutlich an seinen Augen ablesen. Er ist froh über die Entscheidung, die er getroffen hat. Er lächelt immer noch, doch jetzt beginnen seine Mundwinkel zu zucken. Erneut läuft er blau an, und ihm rinnt Schweiß über die Stirn. Er hat der Justiz ein Schnippchen geschlagen, allerdings scheint er nicht mehr ganz so froh über seine Entscheidung. Nach zwanzig Sekunden ist das Lächeln restlos verschwunden. Er fängt an, an dem Plastikröhrchen herumzufingern. Hält es an seinen Hals. Er schafft es, die Spitze gegen die Schnittwunde zu drücken, aber er kriegt das Röhrchen nicht hinein; dort ist zu viel Blut, und er hält es im falschen Winkel. Es rutscht über die Ränder der Wunde und zwischen seinen Fingern hin und her. Bei dem Versuch, mit den Händen das Loch zu vergrößern, lässt er das Röhrchen fallen. Es rollt über den Boden in meine Richtung.
    Nach dreißig Sekunden wirft er mir einen flehenden Blick zu. Vergeblich versucht er, das Wort auszusprechen, immer wieder formt er es mit den Lippen.
    Hilfe.
    Ich unterstreiche die Nachricht, die er für mich hingeschrieben hat, und werfe ihm das Rätselbuch in den Schoß. Er schaut darauf hinunter, dann wieder zu mir. Inzwischen sind vierzig Sekunden vergangen, und ich habe noch nie so einen von Panik erfüllten Blick gesehen.
    Ich kann kaum hinschauen.
    Ich will nicht hinschauen.
    Und das muss ich auch nicht.
    Ich hebe das Plastikröhrchen auf, lasse es in meine Tasche gleiten und verlasse das Schlafzimmer. Ich gehe den Flur hinunter, vorbei an Adrian und der toten Frau, vorbei an den alten Möbeln und dem alten Kalender, und trete durch den Hinterausgang, fort von den Würgegeräuschen im Schlafzimmer. Ich schlendere ums Haus herum. Die Pistole liegt im Garten, vor dem Schlafzimmer. Ich hebe sie auf und stecke sie in meine Tasche. Dann werfe ich einen Blick durchs Fenster. Cooper liegt reglos da. Ich habe ihn nicht getötet. Ich hätte ihn retten können, doch ich bin froh, dass ich es nicht getan habe. Ich werfe das Röhrchen durchs Fenster. Denn ich habe keine Lust, Schroder zu erklären, wie es in meine
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