Die Totenfrau des Herzogs
ihm zum Abschied ins Ohr geflüstert, und er erinnerte sich an den Melissenduft ihres blonden Haares und wie sich winzige Holunderblütchen darin verfangen hatten. Ein halbes Jahr war das nun her, als der Holunder geblüht und sie beide mit seinem Duft umhüllt hatte - nur ein halbes Jahr! Er konnte doch nichts dafür, dass der Krieg ihn immer wieder von ihr wegriss! Und jetzt war sie fort, mit unbekanntem Ziel abgereist?
Gérard sank auf die Treppe, das Schwert schepperte zu Boden. Fassungslos starrte er vor sich hin. Fort. Sie hatte ihn sitzen lassen - so viel stand fest. Einfach sitzen lassen. Weiberkram. Am Ende ein anderer. Und die angebliche Abreise nur eine verdammte Ausrede, damit er sein Gesicht nicht verlor. Vielleicht ein Apulier. Ein reicher Apulier. Ein verfluchter Adliger? Einer mit Land und Gold und Truhen voller Schmuck? Er wusste, dass sie seine ärmliche Herkunft im Grunde verabscheute. Er hatte immer gewusst, dass er nicht gut genug für sie war. Er als Sohn einer Küchenmagd und sie königlichen Geblüts, das hatte sie ihn deutlich spüren lassen, damals …
War dies nun ihre Antwort? Ihn sitzen zu lassen? Hatte er ausgedient? Hatte er ihr körperliches Vergnügen bereitet, sie hofiert und sich zum Narren gemacht, um sie zum Lachen zu bringen - und nun war sie mit einem anderen gegangen? War abgereist ?
Sein Geist verdüsterte sich zusehends. Wieder kam die Wut hoch, brannte sich durch seine Kehle, machte sich nach oben Platz in einem fürchterlichen Fluch, dass die beiden Bettler aufsprangen und davonliefen, denn der Ritter hatte sein Schwert wieder ergriffen und drosch nun in Ermangelung
eines menschlichen Gegners auf den unschuldigen Mandelbaum ein, dass die Klinge zitterte, Holzstücke flogen und ein paar Weiber in großer Entfernung vorbeieilten, um nur ja nicht seine Aufmerksamkeit zu wecken …
»Ich hab sie gesehen«, flüsterte es da hinter ihm. Er fuhr herum, blinde Mordlust im Herzen, das Schwert über dem Kopf. Die junge Frau indes hatte keine Angst vor ihm, ihr sonniges Lächeln war ja nicht von dieser Welt. Wahnsinn und Freude lagen in ihrem Geist so dicht beieinander, dass er nicht beurteilen konnte, ob ihm Gefahr drohte oder nicht.
Gérard erkannte die Verrückte. Imas kleine Freundin, das Mädchen aus dem Gauklerkäfig, dessen totes Kind er seinerzeit verbrannt hatte, weil es wie ein Sukkubus ausgesehen hatte und weil Ima ihn darum angefleht hatte, um das Leben der Mutter zu schützen. Er ließ das Schwert sinken. Er verachtete Verrückte und Krüppel, und er war nicht zimperlich, wenn sie ihm beim Betteln auf die Nerven gingen. Doch diese hier schien ihm nützlich, weswegen er sie nicht davonprügelte. So ganz verrückt, daran erinnerte er sich dunkel, war sie nämlich nicht.
»Wo«, flüsterte er heiser. »Wo hast du sie gesehen? Sprich, Mädchen.«
Zutraulich kam sie näher, ihr Blick sagte ihm, dass sie ihn erkannt hatte und mit Ima in Verbindung brachte. Ima war gut - Imas Freunde waren es auch. Er spürte ihr kindliches Vertrauen und riss sich zusammen, damit er sie nicht packte und schüttelte, weil sie nicht gleich ausspuckte, was sie wusste.
»Wo hast du sie gesehen, Mädchen? Wo?«
Sie deutete die Straße hinunter, wo erste Lindenblätter vom Wind getrieben auf dem Boden herumtanzten. Der Herbst war so quälend lang hier im Süden. »Dort ist sie hin. Dort, und dann zum Tor hinaus.«
»Zum Tor hinaus«, wiederholte er verwirrt.
Das Mädchen nickte. »Auf einem Maultier.«
»Mit wem«, fragte er schnell, denn ihre Augen träumten sich gerade wieder weg, den holperigen Weg hinab zum Stadttor, der Freundin hinterher … »Mit wem ist sie geritten, Mädchen?«
Sie sah ihn an. Jetzt hing Trauer wie ein Schleier über ihrem Blick. Sie entglitt ihm. Tränen glitzerten in den Augenwinkeln. Sein Herz klopfte wild - so nah war er einer Antwort! Die Faust umkrampfte den Gürtel. Wenn er sie anfasste, würde sie schreien und nichts mehr sagen. Nicht einmal streicheln durfte er sie - nur warten. Ungeduld peinigte ihn wie eine Geißel …
»Mit wem, liebes Mädchen«, flüsterte er heiser. »Mit wem ist Ima fortgeritten?«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, schluchzend drehte sie sich um, barg das Gesicht in den Händen und weinte, dass die Schultern zuckten. Gérard streckte die Hand aus, fast berührte er die schmale Schulter - aber nur fast. Nein, er ließ es bleiben. Sie würde sich vor seiner Pranke erschrecken und davonlaufen, ohne ihm zu sagen, was sie
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