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Die Tote

Die Tote

Titel: Die Tote
Autoren: Marion
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der Toten an der Theaterstraße vor der Oper verloren. Wenn dieser Anrufer die Wahrheit sagte, war das Mädchen womöglich einen Umweg gelaufen, denn vom Hauptbahnhof zum Kröpcke brauchte man nur geradeaus über die Bahnhofstraße zu gehen, das waren vielleicht dreihundert Meter. Was hatte sie also an der Theaterstraße gemacht? Und wieso hatte der Hund dort ihre Fährte verloren?
    Charlotte nahm ihre Schlüssel vom Schreibtisch und machte sich auf den Weg zu Marens Schreibtisch, um sie abzuholen und mit ihr zusammen zum Jugendamt zu fahren. Dort sollten sie eine Frau Wilmers treffen. Charlotte war froh, dass sie wegkam. Alles war besser, als sich über eine Lobesrede für Ostermann Gedanken zu machen.
    Beim Jugendamt empfing sie Frau Meiler, eine schlanke dunkelhaarige Frau von beachtlicher Größe. Selbst Charlotte, mit ihren eins fünfundsiebzig, musste zu ihr aufschauen.
    »Frau Wilmers telefoniert gerade«, sagte Frau Meiler mit dunkler Stimme, »aber ich bringe Sie schon mal zu ihrem Büro.«
    Sie führte die beiden auf klappernden schwarzen Pumps einen engen grauen Flur entlang. Dabei schwang sie die schmalen jeansbehosten Hüften, als würde sie einen Laufsteg abschreiten. Macht sie wahrscheinlich im Nebenjob, dachte Charlotte. Frau Meiler hielt vor einer grauweißen Tür, die von zwei Stühlen flankiert wurde.
    »Frau Wilmers ruft Sie dann«, teilte ihnen Frau Meiler mit, bevor sie sich umdrehte und ebenso aufrecht wie elegant wieder davonschritt. Charlotte und Maren blickten ihr schweigend hinterher.
    »Junge, Junge«, sagte Maren, als sie verschwunden war, »komme mir vor wie ein Mehlsack. Dabei hab ich gerade zwei Kilo abgenommen.«
    Charlotte musterte ihre schmalbrüstige Mitarbeiterin erstaunt. »Bist du verrückt! Wie dünn willst du denn noch werden?«
    Maren zuckte resigniert mit den Schultern. »Ich will gar nicht dünner werden. Im Gegenteil. Aber unser Vater hält uns ziemlich auf Trab.«
    »So schlimm?«, fragte Charlotte, die wusste, dass die Ärzte bei Marens Vater, der die sechzig schon lange überschritten hatte, vor einem halben Jahr Alzheimer diagnostiziert hatten.
    »Oh Mann, meine Mutter ist ziemlich verzweifelt«, sagte Maren. In ihren Augen schimmerte es. »Gestern Morgen war die ganze restliche Familie eine Stunde lang damit beschäftigt, sein Gebiss zu suchen.«
    »Und? Habt ihr’s gefunden?«
    »Nur durch Zufall«, raunte Maren, »willst du wissen, wo?«
    In diesem Moment öffnete sich die Tür. Frau Wilmers war das genaue Gegenteil von Frau Meiler, eine verhärmte, magere Frau in den Fünfzigern. Sie trug einen schlichten dunklen Pullover von undefinierbarer Farbe, einen blauen knielangen Glockenrock und dazu billige Turnschuhe. Durch die grauen kurz geschnittenen Haare schien bleiche Kopfhaut. Sie bat die beiden Polizistinnen in ein kleines unaufgeräumtes Büro mit einem großen, überladenen Schreibtisch, in dem es nach Banane roch.
    Charlotte stellte sich und Maren vor, und sie setzten sich auf die beiden Besucherstühle.
    »Frau Wilmers«, begann Charlotte, »Sie wissen ja sicherlich, warum wir hier sind.«
    Die Frau nickte und sah traurig von Maren zu Charlotte. »Ja, aber ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen weiterhelfen kann. Alle Familien, die wir derzeit betreuen, sind vollzählig. Wir vermissen weder ein Kind noch eine Mutter. Und bei den Hinweisen, die in den letzten Tagen eingegangen sind, handelt es sich ausschließlich um ältere Kinder in Familien, die uns schon bekannt sind.«
    »Was waren das für Hinweise?«, fragte Charlotte.
    »Die üblichen, ein Zehnjähriger ist betrunken zur Schule gekommen, eine Sechsjährige fehlt seit fünf Tagen und die Eltern sind nicht erreichbar, ein Zwölfjähriger hat zum x-ten Mal die Scheibe vom Kellerfenster des Nachbarn eingetreten und so weiter, und so weiter.«
    Charlotte und Maren wechselten einen Blick. »Was passiert, wenn irgendwo ein Neugeborenes gefunden wird?«, fragte Charlotte.
    »Es wird ärztlich untersucht, und wir versuchen natürlich immer, die Herkunft des Babys herauszufinden. Solange kommt das Kind in eine unserer Pflegefamilien. Wenn wir die Eltern nicht ausfindig machen können oder wir finden die Eltern, stellen aber fest, dass die geistig nicht in der Lage sind, das Kind zu erziehen, dann geben wir es zur Adoption frei.«
    »Wann hatten Sie das letzte Mal so einen Fall?«
    Frau Wilmers schürzte die Lippen. »Da müsste ich nachsehen, ist bestimmt schon mehr als ein Jahr her. Das kommt nicht so oft
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