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Die Tote von Buckingham Palace

Die Tote von Buckingham Palace

Titel: Die Tote von Buckingham Palace
Autoren: Anne Perry
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benommen, angewidert und verzweifelt zu sein.
    So wandte er sich von Narraway ab und dem Inneren der Wäschekammer zu, wobei er es sorgfältig vermied, in die Blutlache zu treten. Überall war Blut, dicke dunkle Flecken. Nur dort, wo es dünn verwischt war, wirkte es hellrot.
    Er fasste nach dem Arm der Toten. Er war steif und fühlte sich kalt an. Seiner Schätzung nach musste der Tod vor mindestens sechs oder sieben Stunden eingetreten sein. Da es inzwischen halb acht war, dürfte die Tat spätestens um zwei Uhr nachts begangen worden sein.
    »Wie sieht es aus?«, fragte Narraway mit erstickter Stimme.
    Pitt teilte ihm seine Vermutungen mit.
    »So viel dürfte klar sein«, sagte Narraway, bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. »Sie ist gestern Abend hier angekommen und sicher bis etwa um Mitternacht von mehreren Menschen gesehen worden.« Er wandte sich Dunkeld zu. »Ich bitte Sie ungern darum, aber würden Sie sich einmal das Gesicht der Frau ansehen und uns sagen, ob Sie sie erkennen?« Dann drehte er sich wieder zu Pitt um und fuhr ihn an: »Decken Sie sie doch um Gottes willen zu! Schließlich gibt es hier genug Laken.«
    Pitt nahm eins vom obersten Brett, entfaltete es und breitete es bis zum Kinn über die Leiche, wobei er darauf achtete, den klaffenden Schnitt in der Kehle mit zu bedecken. Anschließend empfand er eine gewisse Erleichterung.
    Narraway machte Dunkeld Platz, damit dieser näher treten konnte.
    »Ja«, sagte Dunkeld nach wenigen Augenblicken. »Das ist eine der Frauen von gestern Abend.«

    »Sind Sie sich Ihrer Sache sicher?«
    »Selbstverständlich«, stieß Dunkeld mit lauter Stimme hervor. Dann legte er nach Atem ringend eine Hand auf die Stirn und strich sich damit über den Kopf nach hinten. »Wer könnte es sonst sein? Ich sehe mir die Gesichter von Prostituierten nicht an. Ein ganz gewöhnliches Geschöpf. Man hat sie wegen ihrer … Fähigkeiten und nicht wegen ihres Aussehens kommen lassen. Brünett, blaue Augen – so sehen hunderttausend andere Frauen aus.«
    Pitt betrachtete sie genauer. Dunkeld hatte recht, es war ein Dutzendgesicht: angenehme Züge, eine glatte Haut, leicht vernachlässigte Zähne. Er schätzte sie auf Anfang dreißig. Ihr Körper war, das hatte er vorher gesehen, recht ansehnlich, mit vollen Brüsten und einer schmalen Taille. Gut vorstellbar, dass jemand wie Dunkeld mehr darauf geachtet hatte als auf ihr Gesicht. Trotzdem hatte er wahrscheinlich recht: wer hätte sie sonst sein sollen als eine der Prostituierten, die sich die Herrengesellschaft am Vorabend zu ihrem Amüsement hatte kommen lassen? Zu den Gästen gehörte sie mit Sicherheit nicht, und das Fehlen eines Dienstmädchens wäre vom übrigen Personal längst bemerkt worden, ganz davon abgesehen, dass sie dann auch bereits identifiziert wäre.
    »Danke, Sir«, sagte er laut, beugte sich wieder über sie und schloss ihr die Augen.
    »Können wir sie nicht wegschaffen?«, wollte Dunkeld wissen. »Das ist doch … widerwärtig. Nicht auszudenken, wenn eine der Damen zufällig auf sie stieße, ganz davon abgesehen, dass Dienstmädchen kommen werden, um die Betten zu machen und so weiter. Wir sollten dafür sorgen, dass sie woanders hinkommt und hier Ordnung geschaffen wird. Zwar wäre es schön, die Sache in jeder Beziehung vertraulich zu behandeln, aber das Personal wird man wohl in groben Zügen davon in Kenntnis setzen müssen. Sie werden die Leute ja wohl auch befragen wollen.«
    »Alles zu seiner Zeit«, erklärte Pitt.
    »Ich habe mit Ihrem Vorgesetzten gesprochen!«, wies ihn Dunkeld
mit erhobener Stimme zurecht. Er war erkennbar aufgebracht.
    Narraway sah ihn kalt an. Sein Gesicht war nahezu ausdruckslos, als er mit vollständig beherrschter Stimme sagte: »Mr Dunkeld, Inspektor Pitt ist ein Spezialist für Mordfälle. Ich verlasse mich voll und ganz auf sein Können und sein Wissen. Sollten Sie es für angebracht halten, sich nicht nach seinen Anweisungen richten zu wollen, werden wir die Untersuchung nicht übernehmen können, so leid mir das täte. Sie sollten in dem Fall die Leute von der zuständigen Polizeiwache damit beauftragen. Genau genommen wären wir dazu ohnehin verpflichtet, da wir inzwischen wissen, dass es um einen ganz gewöhnlichen Mord geht.«
    Dunkeld sah Narraway aufgebracht an. Eine solche Behandlung schien er nicht gewöhnt zu sein. Ihm war deutlich anzumerken, dass er sich kaum beherrschen konnte, weil er sich in die Ecke getrieben sah. Doch da er in Pitts Zügen weder ein
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