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Die Tote am Watt

Die Tote am Watt

Titel: Die Tote am Watt
Autoren: Gisa Pauly
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Geschäftsreisende holte für Carlotta die Koffer vom Laufband, besorgte einen Gepäckwagen und dirigierte sie in die Ankunftshalle, wo Felix seiner Großmutter mit einem hellen Schrei entgegensprang. »Nonna!«
    Der römische Geschäftsreisende blieb stehen, weil er erwartete, der Familie seiner Reisebekanntschaft vorgestellt zu werden. Aber während Felix an Carlottas Hals zappelte, wurde ihm schnell klar, dass sie ihn längst vergessen hatte. Behutsam stellte er den Gepäckwagen neben Carlotta Capella ab, nahm sein eigenes Gepäck herunter, murmelte einen Abschiedsgruß und ging zum Ausgang. Dort sah er sich noch einmal um, aber seine Hoffnung, dass Carlotta ihm doch noch einen Abschiedsgruß nachwinken würde, erfüllte sich nicht. Oma und Enkel hielten sich an den Händen, lachten sich an und redeten aufeinander ein. Da war kein Platz mehr für eine flüchtige Reisebekanntschaft. Der römische Geschäftsreisende wandte sich ab und ging davon. Leicht enttäuscht, aber gleichzeitig auch irgendwie erleichtert.
    »Felice!«, rief Mamma Carlotta ein ums andere Mal. »Was bist du groß geworden!«
    »Sag doch nicht immer Felice zu mir«, lachte Felix.
    Nun endlich war es Carolin gelungen, die Großmutter auf sich aufmerksam zu machen. »Moin, Nonna!«
    »Carolina!«
    »Carolin.«
    »Wie hübsch du geworden bist, Carolina.«
    »Carolin.«
    »Aber ein bisschen blass.« Mamma Carlotta kniff ihrer Enkelin in die Wangen, wo sich prompt zwei rote Punkte zeigten. »Ecco! Schon besser.«
    Und dann fand sich Carolin dort wieder, wo alle landeten, die in Mamma Carlotta Emotionen auslösten: an ihrer Brust. Sie wartete geduldig ab, bis sie ihre Nase wieder aus dem Ausschnitt der Nonna lösen durfte, dann kam Erik an die Reihe, der kerzengerade dastand, als habe er sein Rückgrat verstärkt, um sich gegen Mamma Carlottas Überschwang zu wappnen.
    Doch es half nichts. Auch er wurde an das weich verpackte Herz seiner Schwiegermutter gedrückt. »Enrico! Wie glücklich bin ich, dich zu sehen!«
    Dann umschlangen sich Carlotta und Felix wie ein Liebespaar und strebten, eng aneinandergeschmiegt, dem Ausgang entgegen, während Carolin und Erik mit dem Gepäckwagen folgten.
    »Madonna!«, erklang es von vorn. »Wie groß! Wie vornehm!« Carlottas ausladende Geste hätte beinahe einem konsternierten Hanseaten den Hut vom Kopf gefegt. »Wie grau! Wie kalt! Genau wie Lucia es immer beschrieben hat!«
    Vor dem Ausgang blieb sie abrupt stehen. »Ich hoffe, auf eurer Insel ist das Wetter etwas … wie sagt man? … etwas angenehmer.«
    Erik bekannte, dass es dort eher noch kälter sein würde. »Der Westwind weht vom Meer herüber. Aber du wirst noch merken, wie gut so ein kühler Seewind tut. Außerdem gibt es auf Sylt mehr Sonne als hier auf dem Festland. Auf unserer Insel scheint sie im Jahr zweihundert Stunden länger als in Hamburg.«
    Mamma Carlotta war zufrieden. »Il sole! Wenn sie auch auf Sylt scheint, ist alles in Ordnung.«
    Erik verzichtete auf den Hinweis, dass die Sonne auf Sylt eine andere Wirkung hatte als in Umbrien. Seine Schwiegermutter würde es ja selber merken.
    »Du sprichst sehr gut Deutsch«, sagte er, als sie auf dem Parkplatz angekommen waren und er das Auto aufschloss.
    Mamma Carlotta nickte stolz. Und dann folgte wieder eine ihrer großen Gesten, vor denen Erik sich gern in Sicherheit brachte. »Ich habe mit Signora Mandini geübt. Du weißt doch – meine Nachbarin, die Giovanni Mandini geheiratet hat.«
    Erik hatte keine Ahnung, von wem die Rede war, aber er nickte, weil er gelernt hatte, dass nonverbale Zustimmung das Leben mit einer Italienerin leichter machte.
    »Außerdem hatte ich ja Carolinas Briefe«, fuhr Mamma Carlotta fort, »und die Bücher in deutscher Sprache. Und all die vielen Aufgaben, die meine Enkelin mir gestellt hat.« Sie warf ihr einen zärtlichen Blick zu. »Und Lucia hat mich ja oft angerufen, als sie noch lebte. Dann habe ich meistens deutsch mit ihr gesprochen, um zu üben. So wie mit den deutschen Touristen, die in unser Dorf kommen. Und außerdem hatte ich ja Zeit zu lernen, während ich Dino pflegte. Er verstand mich schon lange nicht mehr, also konnte ich genauso gut deutsch mit ihm reden. Hauptsache, er hörte meine Stimme und wusste, dass ich bei ihm war.«
    Aber kaum saßen sie im Auto und versuchten, über abbiegende, kreuzende und übereinanderherführende Straßen dem Flughafengewirr zu entkommen, da brach in Mamma Carlotta die Erregung auf, für die es keine deutschen
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