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Die Tote am Watt

Die Tote am Watt

Titel: Die Tote am Watt
Autoren: Gisa Pauly
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bietet er Wein aus Italien, Genever aus Holland und Rum aus Martinique an. In Käptens Kajüte soll es weltmännisch zugehen. Aber die Kajüte ist genauso wenig weltmännisch, wie Tove ein Kapitän ist.«
    Damit waren sie an der Einmündung zum Süder Wung angekommen und Erik bog rechts ab. »Ein kühles Jever passt sowieso viel besser zu unserem Klima als Rotwein«, sagte er noch. Dann hielt er vor einem spitzgiebeligen gelben Haus. Als er sah, wie Mamma Carlottas Augen sich mit Tränen füllten, nickte er schweigend und blickte so angestrengt zur Eingangstür, als könnte er erzwingen, dass sie sich öffnete und Lucia in der Tür erschien. »Sie hat sehr gern hier gelebt«, murmelte er, ehe er ausstieg.
    Mamma Carlotta wischte sich über die Augen, dann kletterte sie aus dem Wagen und sah sich um. Ihre Wehmut war so schnell verflogen, wie sie gekommen war. »Che bello!«, rief sie, streckte die Arme aus, umfasste den ganzen Süder Wung und drückte ihn an ihr Herz. »Und in diesem großen Haus wohnt ihr ganz allein? Wie ist das möglich? Wo sind deine Eltern, Enrico? Deine Tanten, Onkel, Neffen, Nichten …?«
    Erik antwortete nicht, hob das Gepäck aus dem Auto und trug es zur Haustür, während Felix aufzählte, in welche Winde die Verwandten der Wolfs verstreut waren.
    »Das weiß die Nonna doch«, warf Carolin ein, die nicht verstehen konnte, dass längst bekannte Tatsachen immer wieder erörtert werden mussten. »Jeder muss doch selbst wissen, wo er leben will.«
    »In einem wunderschönen Haus wie diesem natürlich!«, rief Mamma Carlotta. »Wo sonst?«
    Und dann ließ sie sich von Felix durch die Tür ziehen, während sie weiter den Entschluss jedes einzelnen Mitglieds der Familie Wolf beklagte, woanders zu wohnen als am Süder Wung in Wenningstedt. »Meine arme Lucia! Zu wem ist sie gegangen, wenn sie nicht wusste, was sie kochen sollte, oder kein Basilikum im Hause hatte?«
    Erik stellte die Koffer in die Diele und sah seine Kinder so lange eindringlich an, bis sie zu wissen schienen, was er von ihnen erwartete. Dann wandte er sich an seine Schwiegermutter. »Ich habe dir doch auf der Fahrt von dem Mord erzählt. Ich muss nach Kampen, verstehst du? Die Kinder bleiben bei dir, sie werden dir alles zeigen.«
    »Erzählst du uns dann später alles von diesem Mord?«, schrie Felix. »Das ist die Bedingung! Jede grausige Einzelheit!«
    »Ein Mord auf dieser Insel!«, seufzte Mamma Carlotta, schien aber nicht mehr bei der Sache zu sein. Mit großen Augen blickte sie sich um und nahm in wenigen Augenblicken alles auf, was sie umgab – die Gemütlichkeit, die ihre Tochter geschaffen hatte, die Landschaftsfotografien, die Lucia gerahmt hatte, die Familienbilder, die sie aufgehängt, die Vorhänge, die sie genäht, die Wände, die sie angestrichen, den Teppichläufer, den sie ausgesucht, die Behaglichkeit, die Lucia zum Leben erweckt hatte und die nicht mit ihr gestorben war.
    Bevor Mamma Carlotta ins Wohnzimmer ging, um dort mit großer Geste und vielen schönen Worten die Einrichtung zu loben, sagte sie: »Felix hat Recht, Enrico. Du musst uns unbedingt alles erzählen, wenn du zurückkommst.«
    Dann öffnete sie den kleinsten ihrer drei Koffer und holte ein Buch hervor, das sie den Kindern mit Tränen in den Augen reichte. »Ich habe es zufällig vor ein paar Tagen gefunden. Es war unter den Küchenschrank gerutscht. Als ich nach Nonnos Tod das Haus gründlich gelüftet und aufgeräumt habe, ist es mir wieder in die Hände gefallen. Eure Mamma hat es als Kind geliebt.«
    Felix warf einen kurzen Blick darauf und lachte spöttisch. Wie man eben lacht, wenn man vierzehn ist und ein Märchenbuch präsentiert bekommt. Die sechzehnjährige Carolin konnte es sich in ihrem Alter schon leisten, einem Märchen größere Aufmerksamkeit zu schenken, ohne Gefahr zu laufen, ihr Gesicht zu verlieren.
    »Cappuccetto Rosso«, las sie und lächelte. »Das Rotkäppchen auf Italienisch. Echt witzig.«

3
    Das Haus lag ganz in der Nähe des Wattenmeeres, nicht weit vom Lokal Kupferkanne entfernt. Es stand am Ende eines Weges, an dem es nur wenige Häuser gab und dahinter nichts als die endlose Weite des gerade trocken gefallenen Meeresbodens. Das Haus war reetgedeckt, wie es das Kampener Ortsstatut seit 1920 für alle Neubauten vorgab. Es stand auf einem großen Grundstück, das mit Heckenrosenwällen eingefasst war. Mehrere Autos hatten sich am Zaun aufgereiht, direkt vor der großen weißen Holzpforte stand ein dunkler Kombi mit
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