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Die Tochter der Wälder

Die Tochter der Wälder

Titel: Die Tochter der Wälder
Autoren: Juliet Marillier
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töten, zu verstümmeln, ohne eine einzige Frage zu stellen. Und warum?«
    Ich dachte eine Weile darüber nach.
    »Aber du kennst sie ebenfalls nicht«, erklärte ich logisch genug. »Und es ist nicht nur Vater, der sie für gefährlich hält. Liam sagt, wenn die Kämpfe im Norden und an der Küste im Osten nicht siegreich gewesen wären, würden wir eines Tages überrannt und alles verlieren, was wir haben. Vielleicht nicht nur die Inseln, sondern auch Sevenwaters. Und dann würde unsere Art zu leben für immer untergehen. Das sagt er jedenfalls.«
    »In gewisser Weise stimmt das auch«, entgegnete Finbar überraschenderweise. »Aber in jedem Kampf gibt es zwei Seiten. Er beginnt über eine Kleinigkeit, eine zufällige Bemerkung, eine unbedachte Geste. Von da an wächst er. Beide Seiten können ungerecht sein. Beide können grausam sein.«
    »Woher weißt du das?«
    Finbar antwortete nicht. Sein Geist war dicht vor mir abgeschlossen, dies war nicht der Zeitpunkt für eine Begegnung von Gedanken wie das lautlose Austauschen von Bildern, das so oft zwischen uns stattfand und das uns so viel leichter fiel als das Sprechen. Ich dachte eine Weile nach, aber mir fiel nichts ein, was ich sagen konnte. Finbar kaute auf seinen Haarspitzen – er trug das Haar im Nacken zusammengebunden und lang. Seine dunklen Locken hatten, wie die meinen, einen eigenen Willen.
    »Ich denke, unsere Mutter hat uns etwas hinterlassen«, sagte er schließlich. »Sie hinterließ in jedem von uns ein kleines Stück von sich. Es ist gut, dass Liam und Diarmid das haben. Es wird verhindern, dass sie werden wie er.«
    Ich wusste, was er meinte, ohne seine Worte vollständig verstehen zu können.
    »Liam ist ein Anführer«, fuhr Finbar fort, »ebenso wie Vater, aber nicht genauso. Liam hat Gleichgewicht. Er weiß, wie man ein Problem abwägt. Männer würden für ihn sterben. Eines Tages wird es vielleicht auch geschehen. Diarmid ist anders. Ihm würden Leute bis zum Ende der Welt folgen, einfach weil sie denken, dass das Spaß machen könnte.«
    Ich dachte darüber nach; ich stellte mir vor, wie Liam sich bei Vater für mich einsetzte, wie Diarmid mir beibrachte, wie man Frösche fing und sie wieder gehen ließ.
    »Cormack ist ein Krieger«, meinte ich. »Aber er ist großzügig. Sanftmütig.« Da war immerhin der Hund. Eine der Wolfshündinnen hatte sich verleiten lassen und Mischlinge zur Welt gebracht; Vater hätte sie alle ersäuft, aber Cormack rettete einen der Welpen und behielt ihn, eine magere Hündin namens Linn. Seine Freundlichkeit wurde mit der tiefen, fraglosen Ergebenheit belohnt, wie sie nur ein treuer Hund geben kann. »Und da ist noch Padraic.«
    Finbar lehnte sich gegen die Dachziegel und schloss die Augen.
    »Padraic wird weit kommen«, sagte er. »Er wird weiter kommen als jeder von uns.«
    »Conor ist anders«, stellte ich fest, war aber nicht in der Lage, diesen Unterschied in Worte zu fassen. Es war etwas daran, das mir immer wieder entglitt.
    »Conor ist ein Gelehrter«, sagte Finbar. »Wir alle lieben Geschichten, aber er schätzt das Lernen wirklich. Mutter hatte ein paar wunderbare alte Geschichten und Rätsel und seltsame Gedanken, über die sie dann lachte, so dass man niemals wusste, ob sie es ernst meinte oder nicht. Conor hat seine Liebe für Ideen von ihr. Conor ist – er ist einfach er selbst.«
    »Wie ist das möglich, dass du dich an all das erinnerst?« fragte ich, unsicher, ob er es nicht zu meiner Freude erfand. »Du warst erst drei, als sie starb. Ein kleines Kind.«
    »Ich erinnere mich aber«, meinte Finbar und wandte den Kopf ab. Ich wollte, dass er weitersprach, denn ich war fasziniert davon, von unserer Mutter zu hören, die ich nie gekannt hatte. Aber er schwieg nun wieder. Es wurde spät; lange Baumschatten streckten ihre Spitzen über das Gras tief unter uns.
    Das Schweigen zog sich wieder dahin, so lange, dass ich schon glaubte, Finbar wäre eingeschlafen. Ich wackelte mit den Zehen; es wurde kalt. Vielleicht brauchte ich wirklich Schuhe.
    »Was ist mit dir?« Ich brauchte kaum zu fragen. Er war wirklich anders. Er war anders als wir alle. »Was hat sie dir hinterlassen?«
    Er drehte sich um und lächelte mich an, und dieses Lächeln veränderte sein Gesicht vollkommen.
    »Vertrauen in mich selbst«, sagte er einfach. »Dass ich tun kann, was richtig ist, und nicht davon abweiche, ganz gleich, wie schwierig es wird.«
    »Das war heute schwierig genug«, sagte ich in Gedanken an Vaters kalten
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