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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
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oft an Großmutters Worte und fragte mich, wie sie unter dem Joch eines solchen Gottes nur so gütig hatte bleiben können. Immerhin ließ dieser Gott zu, dass Ungeborene im Mutterleib starben, dass Frauen und Männer mit Krummäxten niedergemetzelt wurden und dass Kinder litten und an der Seuche zugrunde gingen. Allerdings sollte meine Großmutter die schlimmsten Auswüchse nicht mehr miterleben.

    »Man hat uns gewarnt«, verkündete Andrew mit hoher, ängstlicher Stimme. Es war zwar dunkel, aber wir spürten, wie sich beim Sprechen unser Atem mischte. Tom, Andrew und ich saßen auf einem Strohsack. Unsere Knie berührten sich, und wir hatten unsere Köpfe mit Rohbaumwolle bedeckt, um unser Getuschel zu dämpfen. In Vorbereitung auf den Sabbat hatte Großmutter vor dem Abendessen ausführlich aus der Heiligen Schrift vorgelesen. Und so hatte es Stunden gedauert, bis wir uns die Treppe hinauf in unser Speicherzimmer flüchten konnten, um uns schlafen zu legen. Andrew schilderte uns, wie er mit Vater die Boston Way Road nach Norden zum Versammlungshaus gefahren war. An den froststarrenden Ufern des Shawshin reihten sich die Farmhäuser wie Tannenzapfen. Bald hatten sie die Mitte des Dorfes und das Versammlungshaus erreicht, das größer war als das in Billerica und über zwei Etagen und Bleiglasfenster verfügte. Ein Wachtmeister schloss die Tür auf und ließ die drei herein, damit sie auf die Männer des Stadtrats warten konnten. Obwohl John Ballard, der Wachtmeister, erst zweiunddreißig Jahre alt war, bekleidete er diesen Posten nun schon seit fünfzehn Jahren. Er war ein Bär von einem Mann und wohnte nur einen knappen Kilometer von Großmutters Haus entfernt. Andrew packte mich am Ellenbogen. »Sarah, du hättest diesen Kerl sehen sollen«, sagte er. »Sein Haar hat die Farbe von Messing, und sein Gesicht erinnert an geschmolzenes Wachs. Der Mann muss Pocken gehabt haben, um solche Löcher im Gesicht zu kriegen.«
    Es dauerte zwei weitere Stunden, bis John Ballard mit den Stadträten zurückkehrte. Währenddessen hatten mein Vater und meine Brüder Gelegenheit, sich in dem zugigen Holzgebäude aufzuwärmen. Die fünf Patriarchen, die schließlich im Versammlungshaus zusammentraten, trugen dicke wollene Umhänge, von denen keiner gewendet und geflickt war. Sie gaben sich kühl und abweisend, und ihre Namen waren in Andover gut bekannt: Bradstreet, Chandler, Osgood, Barker und Abbot. Diese Männer hatten die Macht, zu entscheiden, ob eine Familie bleiben durfte oder aus der Stadt gejagt wurde. Wie Richter eines Gerichtshofs, vor dem man schuldig ist, bis man seine Unschuld beweist, saßen sie meinem Vater auf Bänken gegenüber. Laut Andrew war Lieutenant John Osgood der furchterregendste gewesen, ein strenger Mann mit finsterem Gesicht, der weder lächelte noch ein Wort des Grußes von sich gab. Die anderen Männer beugten sich in allen Angelegenheiten seinen Wünschen, und er war es auch, der die meisten Fragen stellte. Bald erschien ein jüngerer Mann, der Stadtschreiber, um mit Tinte und Federkiel das Urteil festzuhalten.
    »Dieser Lieutenant Osgood blätterte ein paar Papiere durch und musterte Vater dann von oben bis unten«, berichtete Andrew und beugte sich zu mir vor. »Dann erkundigte er sich, ob er von den Pocken in Billerica wisse. Vater erwiderte, ja, er wisse davon. Dann fragte Osgood, ob jemand von uns bei der Ankunft in Andover krank gewesen sei, und Vater antwortete, nein, wir seien alle wohlauf. Da sah der Lieutenant Vater forschend an und schüttelte den Kopf, sodass ich schon dachte, wir hätten ausgespielt. Und willst du hören, was dann geschah? Die Tür flog auf, und auf der Schwelle stand, wie eine Lichtgestalt, Reverend Dane. Er stellte sich neben uns vor die fünf Männer, erzählte von Großmutter und ihrem guten Ruf in der Stadt und bat, uns bleiben zu lassen. Ich kann dir sagen, die fünf wussten nicht, wie ihnen geschah.«
    »Und dürfen wir jetzt bleiben? Ja oder nein?« Tom griff nach meiner Hand.
    Andrew hielt dramatisch inne, um uns auf die Folter zu spannen. »Wir dürfen«, sagte er schließlich. »Aber man hat uns verwarnt. Wenn wir uns nicht an die Gesetze der Stadt halten und jeden Gottesdienst besuchen, schickt man uns zurück nach Billerica.« Im nächsten Moment erschauderte er heftig und gab ein trockenes, raues Husten von sich. Als ich ihm die Stirn fühlte, war es, als berühre ich einen glühenden Ofen.
    »Ich bin sehr müde«, meinte er und ließ sich auf den
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