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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
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Hexenprozesse von Salem auch noch über den Tod der wenigen verbliebenen Zeitzeugen hinaus lebendig sein wird.
    Wie Gott im Himmel weiß, ändert eine Umbenennung nichts an der Vergangenheit eines Ortes. Es ist eine Geschichte, die nun schon so lange wie eine Spinne in meiner Brust haust, spinnt und spinnt, die Erinnerungen in ihrem Netz einfängt und droht, auch noch den letzten Rest meines Glücks zu verschlingen. Mit diesem Brief hoffe ich, Angst und Trauer endlich hinwegzufegen, damit Gottes Gnade mein Herz wieder rein werden lässt. Denn das ist die wahre Bedeutung des Wortes »Puritaner«.
    Vermutlich ist dieser Ausdruck inzwischen schrecklich aus der Mode, denn man denkt dabei an Menschen, die veralteten Ansichten, Aberglauben und nicht mehr zeitgemäßen starren Bräuchen anhängen. Die Puritaner glaubten, als Volk einen Pakt mit Gott geschlossen zu haben. Der Allmächtige selbst habe sie damit beauftragt, in der Wildnis eine Festung zu errichten und sie in geweihten Boden zu verwandeln. Hier in der Einöde sollten sie dafür Sorge tragen, dass sich der Lauf der Welt Gottes Willen unterordnete.
    Was für ein Hochmut!, sage ich heute. Unsere Stadtväter hielten sich nämlich allen Ernstes für Heilige, die vom Herrn dazu bestimmt worden seien, mit harter Hand und heiligem Zorn über unser kleines Dorf zu herrschen. Insbesondere der heilige Zorn gewann dabei immer mehr an Einfluss, verbreitete sich wie ein Flächenbrand im Dorf Salem und den benachbarten Ortschaften und löschte bald zahlreiche Familien aus. Hintergrund von alldem waren Habgier, die Pocken und die ständigen Überfälle der Indianer, die die Vernunft der Menschen zermürbten und die Fundamente von Vertrauen und nachbarschaftlichem Miteinander ebenso untergruben wie das Familienleben und sogar den Glauben an Gott. Es war eine schreckliche Zeit, in der Güte, Gnade und gesunder Menschenverstand auf dem Scheiterhaufen des religiösen Eifers geopfert wurden. Wer überlebte, war von nun an bedeckt mit der bitteren Asche der Reue und Schuld.
    Die Religionsauffassung der Puritaner deutete jedes Ereignis - sei es ein umgestürzter Baum, eine Krankheit oder eine Warze - als Warnung oder Strafe von Gott, dem Vater. Wir kleinen Kinder zitterten und bebten angesichts dieser Welt, in die man uns geworfen hatte. Und es waren letztlich kindische Launen wie Eigennutz und üble Nachrede, die ganze Dörfer dem Untergang weihten. Ich habe, Gott steh mir bei, mit eigenen Augen Kinder gesehen, die ihre Eltern an den Galgen brachten. Du sollst Vater und Mutter ehren, heißt es in den Zehn Geboten - eine von vielen Regeln, die im düsteren Jahr 1692 so mühelos gebrochen wurden, wie Kalkstein auf einem harten Felsen zerbirst. All das erzähle ich Dir, damit Du das puritanische Denken von innen heraus verstehst, und auch um Dich auf den Inhalt des Päckchens vorzubereiten, das ich Dir schicken will.
    Was nun folgt, ist eine Niederschrift meiner Lebensgeschichte, von der Du einiges vielleicht schon von frühester Kindheit an gehört hast. Dass Du mich so von Herzen lieben konntest, während andere sich von mir abwandten, ist ein Wunder Gottes und möglicherweise eine Entschädigung für die vielen Verluste, die ich hinnehmen musste. Mein Leben erinnert an ein Gruselmärchen, wie es Eltern vielleicht ihren unartigen Kindern erzählen, um sie durch Angst zum Gehorsam zu nötigen. Es ist der Stoff, aus dem man Albträume macht. Aber, mein Kind, dieser Albtraum stammt nicht aus einem Märchenbuch, sondern wurde mit dem Blut, den Knochen und den Tränen Deiner eigenen Familie geschrieben. Ich habe meine Erinnerungen und meine Beteiligung an den Ereignissen im Umfeld der Hexenprozesse im Dorf Salem so wahrheitsgemäß wie möglich festgehalten. Gott ist mein Zeuge. Ich bete, dass diese Aufzeichnungen Dir helfen werden, mich zu verstehen und mir zu verzeihen, was ich getan habe.
    Die Winterwinde haben früh eingesetzt und wehen nun schon seit vielen Wochen unermüdlich. Weißt Du noch, dass dicht neben dem Haus eine große Eiche steht? Sie ist schon sehr alt und hat viele Äste verloren, doch der Stamm ist dick und gesund, und die Wurzeln reichen tief. Es gab eine lange Zeit, in der ich den Anblick einer Eiche nicht ertragen konnte, auch wenn man einem Baum ebenso wenig die Schuld an einer Erhängung geben kann wie dem Meer, wenn jemand darin ertrinkt. Nachdem Du den Bericht gelesen hast, wirst Du wissen, was ich damit meine. Ich möchte, dass Du Deine Familie mit diesem
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