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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
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ehrwürdigen alten Baum vergleichst, in dessen Ästen Du Schutz und eine Verbindung zwischen der Erde unter unseren Füßen und dem Himmel über unseren Köpfen finden wirst, wo wir hoffentlich eines Tages mit Gott und miteinander vereint sein werden.
    Ich empfehle Dich der Gnade Gottes,
Deine Dich über alles liebende Großmutter
Sarah Carrier Chapman

»Oh, Kinder, fürchtet euch, ohne Gebet schlafen zu gehen, denn dann ist der Teufel euer Bettgefährte.«
    Cotton Mather, aus einem Begräbnisgottesdienst

1
    Massachusetts. Dezember 1690
    D ie Entfernung zwischen Billerica und dem Nachbarort Andover beträgt keine fünfzehn Kilometer. Allerdings war es für mich eher eine Weltreise, denn wir verließen das einzige Zuhause, das ich je gekannt hatte. Damals hatte ich den Weg vom dumpfen Unbewussten eines Kleinkindes gerade hinter mich gebracht und besaß nun den wachen Verstand eines Mädchens. An diesem Dezembertag war ich neun Jahre alt geworden und mit meiner ganzen Familie unterwegs, um zu meiner Großmutter in das Elternhaus meiner Mutter zu ziehen. Insgesamt waren wir sechs Menschen, die sich in dem offenen Karren drängten: meine Mutter, mein Vater, zwei meiner älteren Brüder, ich und Hannah, die fast noch ein Säugling war. Wir hatten unsere gesamte Habe bei uns. Und wir trugen, ohne es zu ahnen, die Pocken im Gepäck.
    Die Seuche hatte bereits in den Siedlungen von Middlesex County gewütet, und als wir nun Blanchard’s Plain überquerten, folgten uns Ansteckung und Tod nach Osten. John Dunkin, ein Nachbar in Billerica, war erst vor einer Woche daran gestorben. Er hinterließ eine Witwe und sieben Kinder. Ein anderer Nachbar überbrachte uns die Nachricht, und die Tür hatte sich noch nicht hinter dem Boten geschlossen, als meine Mutter schon zu packen anfing. Wir hofften, der Krankheit dieses Mal davonlaufen zu können, denn mein Vater erinnerte sich nur allzu gut daran, wie man ihn vor vielen Jahren beschuldigt hatte, er habe die Pocken nach Billerica eingeschleppt. Er erklärte sich die Vorwürfe damit, dass er Waliser und außerdem ein Fremder gewesen sei, obwohl er schon seit langem in der Stadt lebte. Doch die Krankheit heftete sich an unsere Fersen wie ein streunender Hund und sollte meinen älteren Bruder Andrew als Ersten aufs Krankenlager werfen. Er hatte nämlich die Seuche im Leib und würde sie an unserem neuen Wohnort verbreiten.
    Es war mitten im Winter und so bitterkalt, dass die Flüssigkeit aus unseren tränenden Augen und laufenden Nasen uns auf den Wangen zu weißen Spitzenbändern gefror. Wir alle hatten sämtliche Kleidungsstücke, die wir besaßen, übereinandergezogen und drängten uns eng aneinander, um uns zu wärmen. Die rissigen Bretter des Karrens waren mit Heu bedeckt, das meine Brüder und ich, so gut wir konnten, um uns wickelten. Das Pferd keuchte unter der Last, denn es war kein junger Wallach mehr. Sein Atem stieg in riesigen Dampfwolken auf. Sein Fell war so wollig wie das eines Bären und mit einem Wald aus spitzen Eiszapfen verkrustet, die an seinem Bauch baumelten. Richard, mein fast sechzehn Jahre alter großer Bruder, war nicht bei uns, denn wir hatten ihn vorausgeschickt, um bei den Vorbereitungen für unsere Ankunft zu helfen. Außerdem hatte er auf dem Rücken unseres letzten Ochsen den Proviant dorthin gebracht. Schweigend wie immer, saßen Mutter und Vater vorn im Karren. In unserer Gegenwart sprachen sie kaum miteinander, und wenn doch einmal ein Wort fiel, ging es meistens um Maße, Gewichte, die Erfordernisse der Jahreszeiten und andere Dinge, die die Feldarbeit und die Haushaltsführung betrafen. Vater beugte sich häufig Mutters Wünschen, was bemerkenswert war, weil er sie um einiges überragte - und zwar nicht nur sie, denn er maß, wie es hieß, gut zwei Meter. Für mich als kleines Kind schien sein Kopf jedenfalls in den Wolken zu schweben, während sein Gesicht immer im Schatten lag. Bei seiner Hochzeit mit meiner Mutter hatte er bereits achtundvierzig Jahre gehen sehen, weshalb ich ihn stets als alten Mann empfand, obwohl er sich aufrecht hielt und und flink zu Fuß war. Gerüchten zufolge war Thomas Carrier als junger Bursche vor nicht näher bezeichneten Schwierigkeiten aus dem alten England geflohen. Aber da mein Vater nie von seinem Leben vor der Hochzeit erzählte - im Grunde genommen sagte er ohnehin kaum ein Wort -, wusste ich nichts von seiner Vergangenheit, ehe er sich als Farmer in Billerica niedergelassen hatte.
    Nur zwei Dinge waren mir
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