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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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die Hochspannungsgerüste und die Freilichtmasten erhoben sich in einer zwischen den Bergzügen ausgeschachteten Scharte, eine Ebene fast, die sich weiter im Tal wieder verengte. Auf dem Grunde einer riesigen Grube bewegten sich ruckweise die Bagger, die Motoren dröhnten. Die Ladeschaufeln hoben und senkten sich, der Aushubsand, Schlamm und Steine donnerten in die Wannen großer Laster, die das Material fortbrachten. Die Maschinen mit den gewaltigen Stahlkiefern kamen mir wie gierige Ungeheuer vor, wie mechanische Saurier. Das ganze Gelände glich einem Ameisenheerlager, zwischen Ufer und Felswand, mit großen, aus dem braunen Berg herausgetragenen Rampen, Scherben und Aschenhaufen. Vor dem hellen Hintergrund der Steine hob sich der Maschendrahtzaun die ganze Senke entlang deutlich ab. Der Zaun wurde von einem dreifachen Stacheldraht gekrönt, der über Isolatoren gespannt und offenbar elektrisch geladen war.
    »Es wird Probleme geben«, seufzte ich.
    »Ja.« Atan kaute an einem Grashalm. »Es ist an der Zeit, daß es welche gibt.«
    Wir kauerten auf einer Granitwand, im Schatten eines Krüppelzedergebüsches jenseits des Flusses. Die Pferde hatten wir weiter unten, in einer Senkung, angepflockt. Atan saß auf den Fersen, in einer Stellung, die er stundenlang einhalten konnte, ohne zu ermüden. Seine Arme waren locker über die Knie gelegt. Die Gebetsflaggen im Wasser flatterten; die Masten bebten im Wind.
    Atans kieselharte Augen, die die Anlage beobachteten und jede Einzelheit gründlich studierten, verrieten kein Gefühl. Er wirkte müde, und er hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Ich lehnte mich mit der Schulter an einen Baumstamm. Meine Kehle war trocken, ein ständiges Würgen quälte mich. Nach einer Weile spuckte Atan den Grashalm aus.
    »Ich werde mit dem Boot gehen. Die Böschung ist steil. Da haben sie nur einen Maschendraht gespannt. Den kann ich knacken.«
    Er sprach ruhig, wobei er mit seiner schmalgliedrigen Hand auf verschiedene Punkte im Gelände wies.
    »Die Arbeiter sind in Baracken untergebracht, die Ingenieure in 442
    Fertigunterkünften. Da oben, siehst du? Gleich vor der Felswand.
    Aber ich will sicher sein, daß Sun Li die Kleine bei sich hat. Das muß ich zuerst herausfinden.«
    »Wie willst du das feststellen, Atan?«
    »Indem ich ein paar Leute treffe. Reine Routine.«
    »Und was dann?«
    »Es könnte eine lange Nacht werden«, sagte er.
    Er führte mich in eine Herberge in der Nähe des Klosters. Männer und Frauen schliefen in getrennten Gemeinschaftsräumen. Pferde und Lasttiere wurden an langen Yakhaarleinen im Innenhof angebunden. Meine Zimmernachbarinnen waren eine alte Frau und eine junge Mutter mit ihrem Baby, das fürchterlich schrie. Ich setzte mich zu ihr auf das Eisenbett und stellte fest, daß der Säugling eine starke Augenentzündung hatte. Die eiternden Lider waren völlig verklebt. Ich bestellte abgekochtes Wasser, säuberte mit einem Tuch die Augen des Kindes und bestrich sie mit einer Salbe, die ich der Frau überließ, nachdem ich ihr gründlich erklärt hatte, wie sie die Behandlung vornehmen mußte. Die junge Mutter mit dem kupferroten Gesicht und den herrlich schweren, glänzenden Zöpfen dankte mir überschwenglich. Die alte Frau wollte wissen, wo ich herkam. Ich sagte, daß mein Mann und ich aus Kathmandu kamen und zu den heiligen Stätten pilgerten. Ein paar Stunden vergingen; die alte Frau war eingeschlafen, die Mutter gab ihrem Baby die Brust. Es wurde schon dunkel, als Atan an die Tür klopfte. Ich öffnete; ein Windstoß fegte in das Zimmer. Ich trat zu ihm nach draußen auf den Gang und schloß die Tür hinter mir.
    »Es ist besser, wir verschwinden«, sagte er ohne Umschweife.
    »Morgen trifft eine Delegation aus Kanton ein. Irgendein Minister.
    Bei solchen Anlässen ist die Polizei nervös.«
    Ilha und Bemba hatte er bereits gesattelt. Ich stellte keine Fragen und packte schnell meine Sachen zusammen. Tatsächlich waren überall Barrikaden aufgestellt; vor allem die Mönche wurden angehalten und kontrolliert. Wir führten unsere Pferde am Zügel, mieden das Zentrum und verließen die Stadt über eine dichte Verkehrsstraße. Erst als wir hinter dem Kloster den Weg in die Hügel einschlugen, bracht Atan das Schweigen.
    »Kunsang ist im Lager. Sie gilt als Sun Lis Tochter. Ein Student aus der Agrarschule kommt täglich und bringt ihr Chinesisch bei.«
    »Wie hast du das herausbekommen?«
    »Ich habe verschiedene Fragen gestellt und meine Ohren
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