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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung
Autoren: Caleb Carr
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Bis zu diesem Zeitpunkt war ich so sehr mit Polizeiberichten beschäftigt gewesen – und damit, alle Spuren dessen, was wir getan hatten, zu verwischen –, dass ich es gar nicht richtig an mich herangelassen hatte. Während des Fluges fiel mein Blick jedoch auf einen korpulenten Mann drei Reihen vor mir, der Max’ Doppelgänger hätte sein können, und ich fühlte mich plötzlich, als hätte ich einen Hammerschlag vor die Brust bekommen. Es ist nicht leicht, die letzte lebende Verbindung zur Kindheit zu verlieren; und wenn man jemanden auch noch auf solche Weise verliert, ist das ein Ereignis, das den Wunsch nach Antworten weckt – und einem die Fähigkeit verleiht, nahezu alles zu tun, um sie zu bekommen.
    Ich war also fest entschlossen, eine Erklärung zu finden, und meine erste Station auf dem Weg dazu waren die Büros etlicher Bekannter im nationalen Hauptquartier des FBI in Washington gewesen. Was ich dort zu hören bekam – und die Art, wie meine Kontaktleute es mir sagten –, war beunruhigend: Hinter den oberflächlich freundlichen Worten verbarg sich eine nachdrückliche Warnung, Abstand zu nehmen von jeder Untersuchung, die den Tod von John Price und Max Jenkins zum Gegenstand hatte. Anscheinend waren der Generalstaatsanwalt und der Chef des Bureau ohnehin nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen, weil ich die Kühnheit besessen hatte, in meinem Buch einige Protagonisten der amerikanischen Geschichte unters psychologische Mikroskop zu legen und damit einen – wenn auch bescheidenen – Haufen Geld zu machen. Bei diesen Begegnungen wurden mir jedoch mehr als nur persönliche Animositäten entgegengebracht, und ich fühlte mich hinterher verstört und ausgegrenzt. In meiner Branche rechnet man stets mit leeren Drohungen lokaler Polizeikräfte, die schließlich Profiler schon immer mit tiefem Argwohn betrachtet haben; aber wenn einem das FBI den Boden unter den Füßen wegzieht – also, dann fühlt man sich wirklich einsam.
    Trotzdem flog ich weiter nach Florida, um zu sehen, ob ich mit Dr. Eli Kuperman, dem Anthropologen und Strafgefangenen, sprechen konnte. Er saß in der Belle Isle State Correctional Facility in der Nähe von Orlando ein, einem der vielen neuen, von Privatunternehmen betriebenen Gefängnisse im ganzen Land. Das Gebäude hatte ursprünglich eine High School werden sollen; aber angesichts der erstaunlichen Ausmaße von Gewalt, die mittlerweile unter den Teenagern in den zunehmend ghettoisierten Randgemeinden fast jeder amerikanischen Stadt grassierte, unterschieden sich die Baupläne für High Schools nicht sonderlich von denen für Gefängnisse. Als Florida sich dem Rest des Landes anpasste, indem es der Strafmanie der Bevölkerung Vorrang gegenüber der Bildung einräumte, war die Umwandlung der nahezu fensterlosen Steinmasse von Belle Isle in eine Strafanstalt daher nicht übermäßig schwierig gewesen.
    Ich kam mittags an, reichte meinen Antrag ein und erfuhr zu meiner großen Überraschung, dass Dr. Kuperman nicht nur bereit war, sondern sogar den dringenden Wunsch hegte, mit mir zu sprechen. Er bestand jedoch darauf, dass unser Gespräch anderntags während der abendlichen Besuchszeit stattfinden sollte. Als ich am nächsten Abend um sieben Uhr vor einer durchsichtigen, kugelsicheren Scheibe im ersten Stock des Besuchergebäudes von Belle Isle Platz nahm, war es fast schon dunkel. Kurz darauf kam ein Wärter durch eine Tür im Raum jenseits der transparenten Trennwand herein, gefolgt von einem nicht sehr großen, nicht sehr schweren Mann mit dunklen Zügen und lockigen braunen Haaren, der eine zerbrechliche Hornbrille trug: Eli Kuperman. Er erkannte mich ebenso schnell wie ich ihn, kam herüber und nahm voll gespannter Ungeduld mir gegenüber Platz. Der Wärter schaltete eine Sprechanlage ein, sodass wir uns unterhalten konnten.
    »Dr. Wolfe«, sagte Kuperman mit einem Lächeln. »Es ist mir eine Ehre. Ich habe Ihr Buch gelesen – faszinierend, wirklich.« Dass er eingesperrt war, schien ihn überhaupt nicht zu stören.
    »Dr. Kuperman.« Ich dankte ihm mit einem Nicken für sein Kompliment. »Ich habe auch viel über Ihre Arbeit gelesen – obwohl ich zugeben muss, dass ich nicht recht verstehe, wie die Sie hierher gebracht hat.«
    »Nein?«, sagte Kuperman wieder sehr freundlich. »Nun, das werden Sie ziemlich bald herausfinden. Ach, dabei fällt mir ein …« Er knöpfte die Manschette seines himmelblauen Hemdes auf, und ich sah ein kleines, biegsames Tastenfeld an seiner
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