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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung
Autoren: Caleb Carr
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Dokuments, das ich über meinen eigenen neuen Teufel, das Internet, verbreiten kann, um so Feuer mit Feuer zu bekämpfen? Letzteres setzt natürlich voraus, dass mir jemand glauben wird. Aber ich darf mich von solchen Zweifeln nicht davon abhalten lassen, es zu versuchen. Irgendjemand muss zuhören, und, noch wichtiger, irgendjemand muss es verstehen …
    Denn es ist die bedeutsamste Wahrheit unserer Zeit: Information ist nicht Wissen.

2
    I m Rückblick hätte jeder das Muster erkennen können, wenn er nur aufmerksam genug hingeschaut hätte. Eine auffällige Reihe von »Entdeckungen« in Geschichte, Anthropologie und Archäologie hatte mehrere Jahre lang Schlagzeilen gemacht. Oberflächlich betrachtet fielen sie jedoch alle unter die großen Fortschritte, die durch die beständige Weiterentwicklung und permanente Vermischung von Bio- und Informationstechnologie auf jedem dieser Gebiete ermöglicht worden waren. Und deshalb lebten jene von uns, die vielleicht bemerkt hätten, dass da jemand im Verborgenen die Fäden zog, einfach so weiter wie zuvor. Wir lebten so weiter; ja, selbst ich hatte ein Leben, bevor all dies begann …
    Nach den Maßstäben des modernen Kapitalismus hatte ich sogar ein gutes Leben; ich verdiente viel Geld und war in meinem Beruf anerkannt. Als ausgebildeter Psychiater lehrte ich Kriminalpsychiatrie und -psychologie an der John Jay University in New York (meiner Geburtsstadt, in der ich auch meine Kindheit verbracht hatte). Das früher vergleichsweise kleine College für Strafrecht war während des Trends zu privatisierten Gefängnissen, der in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts eine so ungeheure Dynamik entfaltet hatte, eine der reichsten Bildungseinrichtungen im ganzen Land geworden. Nicht einmal der Wirtschaftszusammenbruch von ’07 und die daraus resultierende weltweite Rezession hatten das Wachstum der John Jay stoppen können: Die Universität hat immer die besten Strafvollzugsbeamten Amerikas hervorgebracht, und im Jahr 2023, in dem die zwingend vorgeschriebenen Strafen für Drogenbesitz und Störung der öffentlichen Ordnung so scharf waren, dass volle zwei Prozent der Bevölkerung des Landes hinter Gittern saßen, brauchten die Vereinigten Staaten nichts so dringend wie Gefängniswärter. All das hatte zur Folge, dass Leute wie ich, die an der John Jay die eher intellektuellen Dinge lehrten, ein mehr als anständiges Gehalt bezogen. Überdies hatte ich vor kurzem einen Bestseller geschrieben, Die psychologische Geschichte der Vereinigten Staaten (meinen zweiten Doktor hatte ich in Geschichte gemacht), und so konnte ich es mir tatsächlich leisten, in Manhattan zu wohnen.
    Diese beiden Fachgebiete – Kriminologie und Geschichte – waren der Grund dafür, dass am 13. September 2023 eine gut aussehende, geheimnisvolle Frau in mein Büro trat. Es war ein grauenhafter Tag in der Stadt; die Luft stand und war so verschmutzt, dass der Bürgermeister die Einwohner aufgefordert hatte, das Haus nur dann zu verlassen, wenn sie wirklich etwas Dringendes zu erledigen hatten. Auf meine Besucherin schien das allerdings zuzutreffen: Schon auf den ersten Blick merkte man, wie zutiefst erschüttert sie war, und darum geleitete ich sie so behutsam wie möglich zu einem Stuhl. Sie fragte mich mit gedämpfter Stimme, ob ich tatsächlich Dr. Gideon Wolfe sei; als ich bejahte, erklärte sie mir, sie sei Mrs. Vera Price. Ich erinnerte mich sofort, dass sie die Frau eines gewissen John Price war, eines führenden Special-Effect-Genies der Film- und Themenpark-Industrie, den man vor ein paar Tagen vor seinem Wohnhaus in New York ermordet hatte. Und zwar auf besonders unschöne Weise, sollte ich vielleicht hinzufügen: Sein Körper war von einer unbekannten Waffe in so kleine Stücke zerrissen worden, dass man ihn nur mit Hilfe seiner DNA-Unterlagen hatte identifizieren können. Ich sprach ihr mein Beileid aus und erkundigte mich, ob es in dem Fall irgendwelche Fortschritte gebe, bekam aber nur zur Antwort, dass dem nicht so sei und dass es wohl auch nie welche geben werde – außer ich würde ihr helfen. »Sie« würden es angeblich nicht zulassen.
    Ich fragte mich, wer »sie« sein mochten, während ich Mrs. Price weiter zuhörte. Sie erklärte mir, sie und ihr Mann hätten zwei Kinder gehabt; das erste sei – wie vierzig Millionen andere Menschen weltweit – während der Staphylokokken-Epidemie im Jahr 2006 gestorben. Das zweite Kind der Prices, eine Tochter, ginge jetzt auf die High
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