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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens
Autoren: Paulus Hochgatterer
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nettesten Depression der Welt. »Ich hätte sie so oder so als Letzte drangenommen«, sagte er, »am Schluss soll man sich etwas Gutes tun.« Linda legte die Stirn in Falten.
    Im Ambulanzzimmer stand ein kleines Fichtenreisiggesteck auf dem Tisch. Eine dunkelrote Kerze mit goldenen Sternen. Die superkitschige Idylle war in Wahrheit eine der wenigen Angelegenheiten, die das Leben erträglich machten. Er hatte auch einige Zeit gebraucht, um sich das einzugestehen. Man soll sich etwas Gutes tun, dachte er. Am Schluss immer etwas Gutes und die Kacke nach Möglichkeit gleich am Anfang. Die volle Kacke. Er ließ Schmidinger aufrufen.
    Ein unsägliches Rasierwasser, dahinter der Geruch von Fußschweiß. »Ich sage Ihnen, ich bin am Ende!« Horn hatte gewusst, dass so etwas kommen würde. Am Ende. Am Boden. Zerstört. Kaputt. Vollkommen fertig. Der Mann saß in seinem karierten Sakko mit den Lederflecken auf den Ellbogen da, hatte vorne die Fingerspitzen unter den Gürtel geschoben und leckte sich ständig die Lippen. »Inwiefern am Ende?«, fragte Horn.
    »Meine Frau … Sie wissen schon.«
    »Provoziert sie Sie wieder?«
    Diese Augen, dachte Horn, diese kleinen bösen Augen, die herumrollen wie zwei rot marmorierte Murmeln. Die Nase, vorne ein wenig hochgedreht, und die aufgeworfenen Lippen, über die in einem fort die Zungenspitze wanderte. In manchen Momenten ertrage ich meinen Beruf nicht, dachte Horn.
    Norbert Schmidinger hatte die Nutzbarkeit der Psychiatrie vor einiger Zeit kennen gelernt, kurz nachdem er die damals eineinhalbjährige Melanie erstmals gegen die Wand geworfen hatte. Ein Nervenarzt aus Linz hatte ihm in einem Gefälligkeitsgutachten eine vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit attestiert und auf diese Weise das Gefängnis erspart. Ab diesem Zeitpunkt war Schmidinger regelmäßig beim Psychiater aufgetaucht, jeweils knapp nachdem seine Frau oder eine seiner drei Töchter Kontakt mit der Unfallchirurgie oder der Polizei gehabt hatten. Horn selbst hatte ihn im Zuge eines Berufungsverfahrens gegen eine gerichtliche Wegweisung kennen gelernt und letztlich nicht umhin können, ihm eine gewisse Behandlungsbereitschaft zu bestätigen. Er hatte sich danach über mehrere Wochen hinweg elend gefühlt.
    »Meine Frau … Sie wissen schon … wie immer.«
    »Ich wette, sie hat Sie sogar unter dem Weihnachtsbaum provoziert.«
    »Wer das nicht erlebt hat …«
    »Zum Beispiel mit einem Geschenk, von dem sie sicher sein konnte, dass Sie es hassen?«
    »Sie können sich nicht vorstellen …«
    »Die Töchter haben vermutlich schon am Vortag begonnen. Beim Schmücken des Baumes.«
    »Ich bemühe mich so!«
    Wen hat es diesmal erwischt?, dachte Horn – Renate, seine Frau, oder wieder einmal Birgit, die Jüngste? Sie war gerade erst fünf.
    »Wen hat es diesmal erwischt?«
    Die rot geäderten Murmeln blieben für eine Sekunde hängen. Dann sog Schmidinger die Luft durch die Zähne ein. »Sie wissen, wie das ist«, sagte er, »Sie haben selbst diese gescheiten Sachen über meine Impulskontrolle geschrieben.«
    Warum hat man so eine verdammte Scheu, die Dinge hinzuschreiben, wie sie sind, fragte sich Horn, warum schreibt man nicht ›schwerer Psychopath‹ und unterstreicht es doppelt, wenn jemand vor einem sitzt, auf den das ohne Zweifel zutrifft?
    »Es gibt Leute, hab ich gelesen, die können nicht auf einem Bein stehen, so sehr sie es auch üben«, sagte Schmidinger, »und wenn man so ein Defizit hat wie ich, ist es auch nicht anders, denke ich.«
    »Wen hat es erwischt?«, fragte Horn, »wer hat dieses Defizit zu spüren bekommen?« Schmidinger gab keine Antwort, sondern knetete sein Bauchfett und leckte sich die Lippen.
    »Sie sehen, ich bin hergekommen. Ich drücke mich nicht. Ich möchte mich ja behandeln lassen«, sagte er dann und grinste schief.
    Horn spürte einen winzigen Schwindel. Es reicht, dachte er, es reicht absolut. Außerdem versaut mir keiner die Weihnachtstage, keiner, am allerwenigsten so jemand!
    »Nehmen Sie Ihr Medikament noch?«
    Schmidinger schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich habe schon nach einer Woche Gleichgewichtsstörungen bekommen.«
    Hautausschlag, dachte Horn, ich hätte auf Hautausschlag getippt. Das steht auf dem Beipackzettel in der Rubrik ›häufige Nebenwirkungen‹ noch vor den Gleichgewichtsstörungen. Die Provokation durch das Nächstliegende war ihm immer schon speziell zuwider gewesen. Er verordnete Schmidinger zweimal eine halbe Tablette Clozapin und bestellte ihn zur
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