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Die Sturmrufer

Die Sturmrufer

Titel: Die Sturmrufer
Autoren: blazon
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dem Dach ausgebreitet. Niedergeschlagen tastete sie nach ihrem Lederbeutel. Immerhin war das Geld noch da. Mehr Geld, als sie jemals in der Hand gehabt hatte. Immer noch konnte sie sich nicht daran gewöhnen, dass es ihr gehörte. Nun, zumindest so lange, bis Sebe und Omin sie fanden. Außer dem Lederbeutel besaß sie nur noch ihr kurzes Messer mit dem Griff aus Martiszahn. Es gehörte zu ihr so wie der Wunsch, der brennende Wunsch, das Messer Omin zwischen die Rippen zu stoßen. Doch alles andere war weg: die Decke, die ihre Mutter bestickt hatte, der Strohhut, den sie immer zur Feldarbeit getragen hatte, die Jacke, das Hemd und die Winterschuhe – irgendwo da draußen sanken diese Gegenstände jetzt wohl dem Meeresgrund entgegen, unendlich tief hinunter, bis zu den Wohnstätten der Naj. Der Naj! Die einzige tröstliche Erinnerung heute. Wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn vor sich. Er funkelte und glänzte wie ein Juwel, selbst an seine Stimme erinnerte sie sich – tonlos und rauschend wie das Wasser.
    Amber legte den Kopf auf ihre Knie. Es war immer noch ungewohnt, kein langes Haar zu fühlen, das ihr über die Schultern und Arme fiel. Mit dem Messer hatte sie es sich abgeschnitten, bevor sie durch die steilen Schluchten des Flussbettes gewandert war. Immer am Fluss entlang. Der Fluss mündete ins Meer und etwas weiter rechts von der Mündung lag Dantar – die märchenhafte Stadt, über die die Bauern auf den Hochebenen sich tausend Dinge erzählten. So wie der Fluss mündete auch Ambers ganzes Leben in diese Stadt. Das Problem war nur, dass diese Stadt sie offenbar gar nicht haben wollte. Inu hatte mehr als deutlich gemacht, dass er keinen Wert darauf legte, sie wiederzusehen. Leute vor dem Ertrinken zu retten gehörte in Dantar vermutlich zum Tagesgeschäft. Vielleicht sollte sie doch aufgeben und in die Berge zurückgehen? War es nicht besser, von oben aus auf das Meer zu schauen und nachts nur von Dantar zu träumen – wie ein Naj aussah, wusste sie ja nun.
    »Na, auch auf der Durchreise?«, meldete sich ein junger Händler neben ihr zu Wort. Er lagerte am Rand des Daches, einige gerettete Gepäckstücke stapelten sich hinter ihm. Immer noch rann Wasser daraus hervor. Die rote Tracht wies den Mann als einen Reisenden aus dem Winterland Lom aus. Er hatte einen weiten Weg hinter sich. Hoffnungsvoll ließ er seinen Blick über Ambers Hals, ihre langen Arme und die bloßen Beine wandern. Sie schienen ihm zu gefallen, obwohl sie mit Kratzern und blauen Flecken übersät waren. Amber zog rasch die Beine unter das feuchte Tuch. »Ich reise nicht, ich arbeite im Hafen.« Auch wenn das eine Lüge war, taten die Worte gut. Und mit einem Mal, als sie über die Dächer blickte, die in der Dämmerung fahl leuchteten, und dahinter das Glitzern des nächtlichen Meeres sah, war wieder dieses Gefühl der Sehnsucht da und schwemmte die Enttäuschung und die Mutlosigkeit fort. Es war verrückt, es war der falsche Zeitpunkt und keiner wollte sie hier – aber sie liebte diese Stadt! Sie liebte das Meer so sehr, dass es wehtat sich vorzustellen, wieder wegzugehen. Und nichts und niemand würde sie davon abhalten, sich diese fremde Welt zu eigen zu machen!

Das Boot
     
    E ine Berührung am Arm weckte sie. Mitten aus einem Traum heraus schoss sie hoch, die Faust geballt, mit blinzelndem Blick nach der besten Stelle suchend, um den Gegner außer Gefecht zu setzen. In ihrem Kopf irrlichterten noch die letzten Bilder des Traums: Sebe und Omin mit Waffen in den Händen und das Geräusch von reißendem Stoff.
    Doch es war weder Sebe noch Omin, es war Inu! Der Seiler machte einen Satz nach hinten und hob erschrocken die Arme. Amber nahm sofort die Faust herunter.
    »Deine Freunde müssen harte Schädel haben, wenn du sie immer so freundlich begrüßt«, meinte er mit einem ironischen Lächeln. Er flüsterte, um die Schlafenden nicht zu wecken. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber am Horizont spiegelte das Meer bereits einen hellen Lichtstreif.
    »Wusste nicht, dass du zu meinen Freunden gehörst«, konterte Amber. »Unsere Wege haben sich doch getrennt. Was willst du?«
    »Wenn du die Erlaubnis bekommen willst, in dieser Stadt zu leben, solltest du dir abgewöhnen, die Leute ständig so unfreundlich anzuherrschen. Und wenn du klug bist, fängst du bei mir damit an, dantarianische Höflichkeit zu üben.«
    Amber verbiss sich eine scharfe Antwort. Aufmerksam sah sie sich die Seile an, mit denen Inu beladen war. Sie hingen an
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