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Die souveraene Leserin

Die souveraene Leserin

Titel: Die souveraene Leserin
Autoren: Alan Bennett
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das erinnerte sie an ihre frühen Lebensjahre. Einer der aufregendsten Momente ihrer Jugend war die Siegesnacht am Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen, als sie und ihre Schwester sich aus dem Palast geschlichen und unerkannt unter die feiernde Menge gemischt hatten. Etwas Ähnliches geschah beim Lesen, spürte sie. Es war anonym, gemeinsam und allgemein. Und da sie ein Leben hinter Schranken verschiedenster Art geführt hatte, verlangte es sie nun genau danach. Auf diesen Seiten, zwischen diesen Buchdeckeln konnte sie unerkannt umherschweifen.
    Solche Zweifel und Selbstbefragungen waren jedoch erst der Anfang. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, kam es ihr nicht mehr so eigenartig vor, dass sie lesen wollte, und die Bücher, denen sie sich so vorsichtig genähert hatte, wurden ihr Element.

    Eine der wiederkehrenden Pflichten der Queen war die Eröffnung des Parlaments, und bisher hatte sie diese Aufgabe nie besonders lästig gefunden, sondern sogar genossen: An einem klaren Herbstmorgen die Mall entlang kutschiert zu werden war auch nach fünfzig Jahren noch eine Freude. Nun nicht mehr. Ihr graute vor den zwei Stunden, die das Prozedere in Anspruch nahm, auch wenn sie glücklicherweise in der Karosse fuhren und nicht im offenen Wagen, sodass sie ihr Buch mitnehmen konnte. Das gleichzeitige Lesen und Winken beherrschte sie inzwischen recht gut, es kam nur darauf an, das Buch unterhalb der Fensterkante zu halten und sich auf die Buchstaben zu konzentrieren, nicht auf die Menschenmenge. Dem Herzog gefiel das natürlich ganz und gar nicht, aber meine Güte, es half.
    Das war ja alles schön und gut, doch als sie jetzt in der Kutsche saß, die Kolonne sich im Vorhof des Palastes aufgestellt hatte und fertig zum Abmarsch war, merkte sie beim Aufsetzen der Brille, dass sie das Buch vergessen hatte. Und während also der Herzog in seiner Ecke schäumt und die Postillions nervös werden, während die Pferde trappeln und die Geschirre klirren, wird Norman auf seinem Mobiltelefon angerufen. Die Wachsoldaten rühren sich, die Kolonne wartet. Der verantwortliche Offizier schaut auf die Uhr. Zwei Minuten über die Zeit. Er weiß, dass nichts Ihre Majestät mehr verärgert als Unpünktlichkeit, und ist ob der unvermeidlichen Konsequenzen wenig erfreut. Doch da kommt Norman über den Kies gehastet, hat das Buch klugerweise in eine Stola gehüllt, und los geht es.
    Dennoch wird ein äußerst missgelauntes königliches Paar über die Mall kutschiert, der Herzog auf seiner Seite wütend winkend, die Queen ihrerseits eher lustlos, und das Tempo ist recht hoch, denn die Kolonne versucht, die verlorenen zwei Minuten wiedergutzumachen.
    In Westminster angekommen, versteckte sie das Buch bis zur Rückfahrt hinter einem Polsterkissen, und als sie auf dem Thronsitz Platz nahm und ihre Rede begann, war ihr mehr als sonst bewusst, wie öde der Sermon war, den sie hier halten musste, obschon dies die einzige Gelegenheit war, bei der sie der ganzen Nation etwas vorlesen durfte. »Meine Regierung wird dies tun… meine Regierung wird jenes tun.« Das Ganze war so barbarisch formuliert und so völlig stillos und uninteressant, dass ihrer Ansicht nach der Akt des Lesens selbst dadurch in den Schmutz gezogen wurde, und ihr diesjähriger Auftritt war noch schlimmer als üblich, weil auch sie versuchte, die fehlenden zwei Minuten aufzuholen.
    Mit einiger Erleichterung kehrte sie daher in die Kutsche zurück und suchte hinter den Kissen nach ihrem Buch. Es war nicht da. Während sie weiterrumpelten, suchte sie tapfer winkend mit der anderen Hand unauffällig hinter den anderen Polstern.
    »Du sitzt doch nicht darauf?«
    »Auf was?«
    »Auf meinem Buch.«
    »Nein, bestimmt nicht. Da sind Veteranen von der British Legion und ein paar Leute im Rollstuhl. Wink, Herrgott noch mal.«
    Als sie wieder im Palast angelangt waren, sprach sie mit Grant, dem heute eingeteilten jungen Lakaien, der sagte, während Ma’am im Oberhaus gesprochen habe, seien die Suchhunde zur Kutsche geführt worden, und die Sicherheitsbeamten hätten das Buch beschlagnahmt. Er glaubte, es sei wohl gesprengt worden.
    »Gesprengt worden?«, fragte die Queen. »Aber das war Anita Brookner.«
    Der bemerkenswert undevote junge Mann antwortete, die Sicherheitskräfte hätten es wahrscheinlich für eine Bombe gehalten.
    Die Queen sagte: »Ja. Genau das ist es auch. Ein Buch ist ein Sprengsatz, um die Phantasie freizusetzen.«
    Der Lakai entgegnete: »Sehr wohl, Ma’am.«
    Es kam ihr
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