Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Soldaten

Die Soldaten

Titel: Die Soldaten
Autoren: Tobias O. Meißner
Vom Netzwerk:
den größten Spielraum beim Zuordnen von Umrissen besaßen.
    Einmal sahen sie ein Einhorn, aber es war kein schlankes, pferdeähnliches, sondern ein wuchtiger Dickhäuter mit graubrauner Lederhaut.
    Einmal sahen sie einen Drachen fliegen, aber er war weit entfernt und glitt nach Westen. Sie atmeten alle auf, denn von den Holtzenauen schätzte seine Flügelspannweite auf zehn Schritt.
    In einer der Nächte glaubte Gyffs einmal Schreie zu hören. Sehr ferne, dünne Schreie. Waren es ihre eigenen unbestatteten Toten, die nicht einmal ein Senchak-Ritual erhalten würden? War es die Stimme von Eremith Fenna, die ihr hinterherrief, dass er hatte umkehren wollen, bevor alles zu spät war?
    »Das ist nur der Wind«, sagte Mails Emara, den sie neben sich zur Wache eingeteilt hatte. Kurz beruhigte sie das. Dann fragte Emara: »Das ist nur der Wind, oder, Leutnant?«
    Am vierten Tag ihrer Flucht wurde es nebelig. Hatte der Nebelmond bereits begonnen? Leutnant Gyffs hatte ein wenig die Kontrolle über die Abfolge der Tage verloren, aber Alman Behnk war sich ziemlich sicher, dass dieser Tag erst der 27. Blättermond sein konnte.
    Die Vorräte gingen beständig zur Neige.
    Sie gingen zur Neige und dann immer noch weiter zur Neige.
    Die Landschaft wechselte kontinuierlich die Farben.
    Sie war blau in den Nächten und gelb an den Tagen und rot in den Dämmerungen. Sie ruckelte vorbei, als würde sie von blinden Pferden gezogen.
    Am Horizont zeichnete sich das Felsenwüstengebirge ab. Ein weltumspannender Drache, dessen Rückgrat sich erhob.
    Resea brabbelte im Fieber von berstenden Pferden und dem Geruch von Kamille.
    Stodaert lächelte und nickte tapfer, aber er konnte nichts mehr essen oder trinken. Von den Holtzenauen tat, was er konnte. Auf ihre Proviantsituation wirkte sich das positiv aus, dass der Soldat Stodaert im Sterben lag.
    Leutnant Gyffs grübelte viel, besonders während der Nachtwachen.
    Sie dachte darüber nach, weshalb sie so viele Jahre ihres jungen Lebens darauf verwendet hatte, das Kämpfen zu erlernen, wenn sie dann im Ernstfall gar nicht zum Kämpfen kam. Sie war immer wieder nur überrumpelt worden, hatte keinen einzigen Schuss abgegeben, keinen einzigen Streich geführt, sich mehr unnütz als nützlich gemacht. Ihre Männer waren bei dem Versuch, sie zu verteidigen, gedemütigt worden.
    Sie dachte darüber nach, warum keiner ihrer vielen Ausbilder sich jemals die Zeit genommen hatte, sie beiseite zu nehmen und ihr in ruhigem Tonfall zu erklären, dass Heldentum eine Unmöglichkeit war.
    Schließlich kam verschattet und kühl die Festung Carlyr in Sicht.
    Die Männer in Leutnant Gyffs’ Rücken jubelten und wollten sich über die Reste von Wasser und Proviant hermachen, doch Gyffs hielt sie noch zurück. Sie wollte sehen, ob die Türme der Festung bemannt waren. Onjalbans Drohung, dass Carlyr und Galliko fallen würden, hallte ihr beständig in den Ohren, an jedem Tag, in jeder Nacht, zu jeder Stunde.
    Die Türme waren bemannt. In der Festung war alles ruhig, ging alles seinen geordneten militärischen Gang.
    Stodaert würde ins Lazarett verbracht werden, die vielen Toten von den Soldlisten gestrichen. Die Zimmerzuteilungen verändert. Die gesamte Erste Kompanie existierte nicht mehr. Ein immer gleichbleibender Kapellenritus würde in Abwesenheit sämtlicher Leichname abgehalten. Der Oberst würde den Verlust seines Vorzeigeoffiziers Gollberg beklagen, vielleicht auch den von Eremith Fenna. Die Warnung des Magiers würde wahrscheinlich in den Wind geschlagen werden, schließlich war er ein Überläufer, ein Verräter. Niemand räumte eine königliche Festung, noch bevor diese überhaupt angegriffen worden war. Die Festung Carlyr: Bemannt nun nur noch von anderthalb Kompanien, von Hobock und Sells und einem erschöpften weiblichen Leutnant namens Loa Gyffs. Und dem Gesinde und den ständig rotierenden Wachtposten.
    Dann würde ein neuer Befehl ins Land ergehen. Leutnant Hobock würde wieder hinausreiten, um neue Freiwillige zu rekrutieren.
    Junge Männer, und diesmal vielleicht auch Frauen, würden sich im Hof drängeln und raufen und gegen Mauern rennen.
    Die leer getöteten Ränge würden aufgefüllt werden.
    Und dann wieder.
    Und noch einmal.
    Kinder zu Soldaten. Zu Verteidigern des Heimatlandes.
    Und noch einmal.
    Und wieder.
    Bis irgendwann das ganze grüne Land südlich des Felsenwüstengebirges genauso lebensleer und trostlos sein würde wie die nackte, aber ehrliche Wüste der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher