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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin
Autoren: Tanja Kinkel
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als die Schwärze ihn umfing, da war er gewiß, daß Romulus ihn nie wieder loslassen würde.

    Tiefes Schweigen herrschte auf dem Hügel, als Romulus mit dem Körper seines Bruders auf die Knie sank. Von dem Moment an, da Romulus zugestochen hatte, waren alle Anwesenden, ganz gleich, welchen der Zwillinge sie bevorzugten, zu entsetzt gewesen, um auch nur einen Finger zu rühren. Erst jetzt, da das Leben aus Remus schwand, kehrte es in ihre Glieder zurück. Pleistinus, einer der Älteren, der sich immer lieber an Remus gehalten hatte, weil ihm Romulus unheimlich war, schrie auf und machte Anstalten, sich auf Romulus zu stürzen; Scaurus und sein Freund Celer hielten den Mann nur mühsam zurück. Auch in einige der anderen Latiner kam Bewegung.
    »Romulus«, sagte Lucius scharf, »wir werden uns hier gegenseitig niedermetzeln, wenn du nicht etwas tust!«
    Romulus hörte ihn. Er stand auf, stellte sich über die Leiche seines Bruders und rief, so laut er konnte: »Auseinander!«
    Die Menge hörte ihn und hielt inne, wie ein unwilliges, nur halb gezähmtes Tier, das immer noch grollte.
    »Niemand sonst wird heute hier sterben«, verkündete Romulus und ließ seinen Blick über sie alle wandern. »Ich habe mein Opfer gebracht. Scaurus, Celer, laßt Pleistinus los. Wenn er mir etwas zu sagen hat, dann mag er das tun.«
    Die Angesprochenen zögerten, doch sie gehorchten ihm. Pleistinus machte ein paar Schritte auf ihn zu, dann hielt er inne.
    »Du Mörder«, stieß er heiser hervor. »Auf dir ruht der älteste aller Flüche. Du hast deinen eigenen Bruder umgebracht, du Mörder!«
    In der eingetretenen Stille hörte Romulus eine Frau schluchzen. Es dauerte einige Momente, bis er sich wieder daran erinnerte, um wen es sich handelte. Antho. Nun, Antho sollte daran gewöhnt sein, daß er seine Verwandten umbrachte. Ohne den Blick von Pleistinus zu wenden, nickte er.
    »Auf mir ruht er, und ich allein werde dafür büßen, wenn die Götter mein eigenes Leben fordern, zum Wohle der Stadt. Denn dafür habe ich meinen Bruder geopfert. Wäre er am Leben geblieben, so würde es keine Stadt geben, nur zwei sich befehdende Dörfer. Und hört mir gut zu, ihr alle. Er starb für das Volk, so wie es seit jeher die Pflicht der Könige ist. Ich bin bereit, den gleichen Tod zu sterben, wenn es an der Zeit ist. Aber dies wird keine Stadt wie alle anderen werden. Ich baue sie auf meinem eigenen Blut, und ich erwarte, daß ihr, jeder von euch, bereit seid, das gleiche Opfer zu bringen, wenn es der Stadt dient. Euer Leben, das eurer Brüder, das eurer Kinder. Wer das nicht fertigbringt, soll gehen, mit seinem Anteil. Ich werde es ihm nicht übelnehmen. Doch wer bleibt, soll wissen, daß er von nun an nicht mein Gefolgsmann ist. Er wird mein Bruder sein, und so, wie ich Opfer verlange, werde ich sie bringen. Ich werde alles tun für ihn und die Seinen, denn aus Brüdern wird sie bestehen, die Stadt.«
    Pleistinus schaute als erster zu Boden. Er schüttelte den Kopf, doch er sagte nichts weiter. Die Männer, die Knüppel, Messer oder Schwerter in den Händen hielten, ließen sie einer nach dem anderen sinken. Keiner von ihnen wagte es, näher zu kommen. Obwohl einige von ihnen sich abwandten und verschwanden, blieb die Mehrzahl in einem weiten Kreis um die Zwillinge stehen und starrte stumm auf die beiden Gestalten.
    Das Opfer - und ihren König.

    Als die Nacht hereinbrach, meldeten Lucius und Scaurus, daß die meisten Männer geblieben seien und bereits begonnen hätten, Gräben für ein ständiges Lager auszuheben.
    »Wohin sollten sie schon gehen«, schloß Scaurus, »als dahin zurück, wo es schlechter ist?«
    Romulus nickte stumm und wunderte sich nicht, daß die beiden sich nach dem erstatteten Bericht so eilig wie möglich entfernten. Er hatte den Tag damit verbracht, Holz für einen Scheiterhaufen zu sammeln. Eigentlich hatte er erwartet, daß ihm dabei irgendwann eine tränenüberströmte Antho ins Gesicht springen würde, doch sie blieb unsichtbar. Vermutlich hatte sie sich bereits einen neuen Beschützer gesucht und war mit ihm aus dem Lager verschwunden. Frauen. Wertlos bis ins Mark.
    Er gestattete niemandem, Remus zu berühren. Er selbst füllte einen der Schläuche, die sie mit sich führten, mit Flußwasser, um die Waschungen vorzunehmen, und hüllte den Körper seines Bruders in die Tebenna, das zeremonielle Gewand der Fürsten, das er aus dem Palast von Alba mitgenommen hatte. Da die Leiche inzwischen steif war, fiel es ihm
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