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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin
Autoren: Tanja Kinkel
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gegen Amulius geführt hatte, steigerte den Zorn in Remus noch, aber nicht so sehr, daß er alles andere darüber vergessen hätte. Wenn es darum gegangen wäre, Romulus zu verprügeln, hätte er nichts lieber getan, doch ihm schauderte vor der Vorstellung, die Waffe gegen seinen Bruder zu erheben.
    »Also gut«, willigte er ein, konnte es sich jedoch nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Da die Götter die Wahnsinnigen schützen, zweifle ich nicht daran, daß dir etwas zuteil werden wird. Mit etwas Glück ist es ein Hüter. Ich bin diese Aufgabe gründlich leid.«

    Am Ende verbrachte jeder von ihnen die Nacht auf einem anderen Hügel. Die Mehrheit der Männer hatte sich um Romulus geschart, doch die Anzahl derer, die mit Remus warteten, war nur geringfügig kleiner. Im Grunde wäre er lieber allein gewesen; so mußte er sich herzhaft und überzeugt geben, wo ihm doch eher danach war, sein Elend mit einem ganzen Schlauch Wein zu ertränken, ungemischt. Er verstand nicht, wie es so weit zwischen ihm und Romulus hatte kommen können, und gleichzeitig fieberte er danach, seinen kleinen Bruder endlich wieder auf dessen alten Platz zu verweisen.
    »Es wird schon werden, Remus«, sagte Antho tröstend zu ihm, während sie sich neben ihn kauerte. »Du bist ein guter Mensch, und du hast das Richtige getan.«
    »Kannst du Blitze vom Himmel rufen?« fragte er sie plötzlich. »Kannst du das?«
    Sie schnitt eine Grimasse, was er im Schein des Lagerfeuers gerade noch erkannte. »Hör mir auf mit solcher Tempelzauberei. Blitze zu lenken, das bringen nur die höchsten Eingeweihten fertig, und auch sie nur selten. Ich kann sie noch nicht einmal richtig deuten. Tut mir leid, aber diese Lehren waren mir immer zu langweilig. Ilian muß dir doch einiges beigebracht haben. Sie weiß Bescheid über solche Dinge.«
    »Einiges«, wiederholte er trübsinnig. »Nichts über Rituale, außer wie man Apollon verehrt, damit seine Priester uns weiter unterstützen. Rituale und Vorzeichen hat sie ihm beigebracht.« Er stocherte mit einem Zweig im Feuer. »Gemessen an den Auswirkungen, die es hatte, sollte ich vielleicht dankbar dafür sein, daß sie mich nicht für klug genug hielt.«
    Antho fuhr ihm mit der Hand durch das Haar und schnalzte mit der Zunge. »Ts. Kluge Leute machen sich nur unglücklich. Schau dir Fasti an, die alte Kuh. All die Pläneschmiederei, und jetzt ist sie an genau der Stelle angekommen, wo sie anfing, als sie beschloß, Numitor loszuwerden. Mein Vater, die Götter mögen ihm helfen, war der klügste Mann, den ich kannte, aber gerettet hat ihn das nicht. Und Ilian...« Sie seufzte. »Du weißt auch nicht, wohin sie verschwunden ist, oder?«
    »Nein, und es kümmert mich auch nicht mehr.«
    »Lügner«, entgegnete Antho. »Du und dein Bruder, ihr würdet euch nicht so benehmen, wenn es euch nicht kümmern würde. Aber weißt du, wenn du ohnehin nicht schläfst, könntest du dir über andere Dinge den Kopf zerbrechen. Zum Beispiel darüber, daß ich überall grüne und blaue Flecken habe und an einigen Stellen wundgescheuert bin. Vielleicht sollten wir wirklich eine Zeitlang an einem Ort bleiben, aber wenn, dann hier oben auf dem Hügel, nicht im Tal. Dort gibt es viel zu viele Mücken. Wie überleben das die Bauern nur?«
    Er umarmte sie und dachte daran, was für ein kostbares, spätes und unerwartetes Geschenk sie war, die Tochter des so lange verabscheuten Feindes. Seit er in seine Heimat zurückgekommen war, hatte er keine richtigen Freunde mehr gefunden. Das war es, was sie ihm bot, und das hatte er tiefer entbehrt, als ihm bewußt gewesen war: Freundschaft. Romulus würde sagen, daß sie sich aus Eigennutz an ihn klammere, weil es sonst keinen Beschützer auf der Welt für sie gab, der keine Gegenleistung von ihr hätte haben wollen, weil sie ein wenig zu alt war, um noch einen angemessenen Ehemann zu finden. Doch Romulus fehlte das Talent, ein Geschenk anzunehmen und froh darüber zu sein. Remus lauschte Anthos Geplapper, und es gemahnte ihn an einen Wasserfall, rasch und oberflächlich dahinplätschernd, über dem sich gelegentlich die erstaunlichsten Regenbogen zeigten. Für eine kurze Zeit schenkte sie ihm Frieden.

    Die Sonne wölbte sich bereits zur Hälfte am Horizont, als Remus sie sah, klar und deutlich gegen das Morgenrot: sechs Geier. Einen Moment lang verschlug es ihm die Sprache. Um zu wissen, was ein Geier bedeutete, bedurfte es keiner Priesterschaft; selbst die Kinder in seinem Heimatdorf hatten eifrig
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