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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin
Autoren: Tanja Kinkel
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sie nun durchaus darauf achtete, die Schweine beisammen zu halten, gab es keinen Grund, sie zu tadeln, und so sprach er auch nicht mehr mit ihr. Er versuchte alle Ansiedlungen, die er kannte, zu umgehen, denn bis auf seine eigenen Leuten traute er jedem zu, ihm seine Tiere und sein neues Weib zu stehlen. Als sie sich seinem Dorf näherten, noch ehe die Sonne unterging, fiel ihm ein Stein vom Herzen, und die Vorfreude darauf, endlich wieder unter Freunden und Familienangehörigen sein zu können, beflügelte seinen Schritt. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, daß auf jedem Acker, an dem sie vorbeikamen, das Unkraut wucherte. Keines der Felder machte den Eindruck, als sorge sich jemand darum, und es war Hochsommer.
    Eine böse Ahnung überfiel Faustulus, aber er konnte es noch nicht glauben. Ohne auf das Vieh, den Karren oder das Mädchen Rücksicht zu nehmen, rannte er aus Leibeskräften auf das Dorf zu. Er wollte es nicht wahrhaben, bis er inmitten der längst verlassenen Hütten stand, in denen schon seit mindestens einem Jahr niemand mehr gelebt hatte. Statt des üblichen Lärms von Mensch und Tier hörte man lediglich die Grillen zirpen und ab und zu das Klappern einer unverriegelten Tür, die von der leichten Abendbrise gegen ihren Rahmen gedrückt wurde. Betäubt ging er in eine der Hütten, in der früher sein bester Freund Ancus mit seiner Familie gelebt hatte, und fand nichts als Leere vor. Er lief zum Haus des reichsten Mannes im Dorf, Mamulius, und begegnete nur den Vögeln, die sich dort eingenistet hatten. Es gab keine Leichen oder neuere Gräber; es schien nicht so, als ob sie alle gestorben wären. Aber sie hatten hier nicht mehr leben können, und so waren sie fortgezogen, und Faustulus, mit dessen Rückkehr niemand mehr gerechnet hatte, wußte nun nicht, wohin.
    Es hatte Zeiten gegeben, in denen er geglaubt hatte, nie wieder nach Hause zu kommen. Dann hatte es Zeiten gegeben, in denen er sicher war, daß es nur noch eine Frage von Wochen sein würde. Aber nie hatte er daran gezweifelt, daß sein Dorf, seine Freunde, seine Eltern und Geschwister noch genau dort sein würden, wo er sie zurückgelassen hatte. Und seit dem Angebot des Königs hatte er sich seine Ankunft hier ausgemalt, die Freude der anderen, wenn sie ihn sahen, wenn sie begriffen, mit welchen Gaben er zurückkehrte. Nun zerfiel sein Traum vor seinen Augen zu Asche, so kalt wie die, die der Wind im letzten Jahr von Mamulius’ Feuerstelle durch den gesamten Raum geblasen haben mußte. Er stand da und versuchte es zu fassen, als er gewahr wurde, daß er kaum noch etwas im Raum erkennen konnte. Offensichtlich ging die Sonne unter. Ihm wurde bewußt, daß er eines der Gatter notdürftig wiederherstellen mußte, um die Schweine darin unterzubringen. Um sich selbst und das Mädchen machte er sich keine Sorgen, sie konnten in eine der Hütten gehen. Es gab ja, sagte er sich bitter, eine genügend große Auswahl. Dann fiel ihm ein, daß er seine neue Frau mit dem Vieh noch vor dem ersten Haus des Ortes zurückgelassen hatte. Wenn ihn das Pech weiterverfolgte, dann hatte sich die Sau mit den Ferkeln irgendwo verkrochen, wo sie nie mehr jemand finden würde, und das Mädchen desgleichen. Er hoffte nicht, daß sie so töricht wäre, in der Dunkelheit fortzurennen, aber er kannte sich mit den Frauen der Tusci nicht aus. Vielleicht neigten sie zu Verrücktheiten, und das war auch der Grund, warum sie so auf ihrer Geschichte mit dem Gott beharrte.
    Hastig trat er wieder ins Freie und dankte den Göttern für den klaren Himmel. Der Mond hatte sein Gesicht zwar schon zur Hälfte abgewandt, aber die Dämmerung bot noch genügend Licht, um sich umschauen zu können.
    Das Mädchen stand, ohne die Karre, aber neben einer der Kühe, an eines der Häuser gelehnt. »Sie... sind fort, Larentia«, sagte Faustulus hilflos und gebrauchte erstmals den Namen, den er für sie ersonnen hatte. »Alle Menschen, die ich je gekannt habe, sind fort.«
    Gleich darauf hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Er hatte nicht vergessen, wie sie ihn einen Barbaren genannt hatte. Wahrscheinlich würde sie jetzt schnippisch bemerken, das könne sie selbst sehen. Er hätte sie lieber fragen sollen, wo die Schweine und die andere Kuh mit dem Karren steckten.
    Sie überraschte ihn. »Ich verstehe«, murmelte sie, sank in die Hocke und legte ihren Kopf auf die Knie. »Das verstehe ich nur zu gut.«
    Ihm fiel wieder ein, wie einsam sie ihm inmitten der Menge erschienen war,
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