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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin
Autoren: Jocelyne Godard
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sehen, dass ihr auch da gehorchen müsst.«
    »Gehorchen!«, kreischte Eloïse. »Ich gehorche erst, wenn ich genauso viel verdiene wie die männlichen Arbeiter. Entlohnt mich genauso wie einen Mann, Yaël, dann widerspreche ich Euch auch nicht mehr.«
    Sie lächelte ihn spöttisch an und zeigte ihm den ganzen Kampfgeist, zu dem sie diese Ungerechtigkeit trieb.
    »Sie hat Recht«, unterstützte sie Gaëlle. »Gebt uns den Lohn, der uns zusteht, und wir lassen Euch in Ruhe. Und wenn Ihr dann wollt, dass wir auf einem Kohlblatt arbeiten – dann arbeiten wir auch auf einem Kohlblatt.«
    Annette und Eloïse brachen in lautes Gelächter aus, wodurch die Situation beinahe in ein Drama ausgeartet wäre. Yaël hob die Hand, und jeder glaubte, jetzt würde er gleich Gaëlle ohrfeigen, ließ sie aber schnell wieder sinken und tobte nur verbal weiter.
    »Ihr kleinen Dummköpfe! Ihr wisst doch nicht einmal, was für euch wichtig ist.«
    »Oh doch, uns ist wichtig, was wir in der Tasche haben, genau wie Euch, was Ihr in der Börse habt. So einfach ist das.«
    Alix kam, um sie abzulenken, und der Ton der Arbeiterinnen wurde versöhnlicher.
    »Soll ich diese Fäden auch abspulen?«, fragte sie Yaël und zeigte eine Garnrolle, auf die ein besonders dicker Faden gewickelt war.
    »Nein, lass das.«
    »In Ordnung. Soll ich dann jetzt die Abfälle in den Schuppen bringen? Ich bin mit Sortieren fertig. Es ist nichts mehr übrig.«
    »Ja doch«, sagte Yaël nervös und warf dem Mädchen einen wütenden Blick zu.
    Jacquou hatte den Streit der Arbeiterinnen verfolgt und begleitete Alix in den Schuppen. Dann half er ihr, das Paket mit den aussortierten Fäden auf einem oberen Regalfach zu verstauen. Als er seinen Arm wieder herunternahm, berührte er flüchtig ihr Gesicht, und das junge Mädchen errötete zart.
    Als die beiden aus dem Schuppen kamen, warf Annette Jacquou einen kurzen Blick zu, schüttelte missbilligend den Kopf, nahm Alix am Arm und schob sie sanft in die Werkstatt zurück.
    »Geh wieder an die Arbeit. Meister Yann hat schon nach dir gefragt. Und du, Jacquou, sollst in sein Arbeitszimmer kommen. Meister Coëtivy will dich sprechen.«
    »Nun, mein Freund«, sagte Yann zu Meister Coëtivy, »es tut mir leid, aber diesmal werdet Ihr Königin Anne nicht sehen, weil sie zwei ihrer Zofen geschickt hat, damit sie die Stickerinnen aussuchen, die sie dann ins Val de Loire begleiten sollen.«
    Er trat zu seinem Freund, dem Weber, und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter.
    »Aber macht Euch keine Sorgen, sie hat mir einen Auftrag erteilt, den ich umgehend an Euch weitergeben will.«
    »Handelt es sich um einen großen Auftrag?«
    »Fünfzig Kissen für die Kirche mit passenden Baldachinen und Kirchenfahnen. Die Königin wünscht sie abwechselnd in Atlas- und Leinwandbindung. Es ist ein Geschenk für die alte Regentin von Beaujeu, die es ihrerseits der Abtei Saint-Denis schenken soll. Da diese Stiftung für kommende Ostern vorgesehen ist, werden wir uns um Kelchschleier und Fastentücher kümmern.«
    Meister Coëtivy strahlte vor Freude. Yann erwies ihm einen großen Freundschaftsdienst, indem er den königlichen Auftrag ohne Umwege an ihn weiterreichte. Er hatte gerade so viel um die Ohren, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte und hätte mit dieser Reise an den Hof von Amboise nur kostbare Zeit verloren.
    Yann ging ein paar Schritte auf und ab und genoss die zufriedene Miene seines Freundes, als er plötzlich die Anwesenheit von Jacquou bemerkte, der leise wie eine Katze hereingekommen war.
    »Hat Jacquou seine Lehre begonnen?«, wandte er sich an Pierre.
    »Er ist auf dem Weg ins Val de Loire. Vielleicht werde ich die Sache etwas beschleunigen.«
    »Ausgezeichnet! Sehr gut! Interessiert er sich denn auch für den Beruf?«
    »Mehr als Ihr Euch vorstellen könnt, mein Freund. Schon jetzt stellt er tausend und eine kluge Fragen. Wenn er sich geschickt anstellt, kann er nach seinen Lehrjahren erster Geselle, und wenn er es wünscht, später auch Meister werden.«
    »Nun, mein Junge, wenn du Meister wirst, ist deine Zukunft gesichert. Arbeite, arbeite ohne Unterlass, das ist der beste Rat, den ich dir geben kann.«
    Dann wandte er sich wieder zu Coëtivy, der immer noch vor Zufriedenheit strahlte.
    »Wo soll er seine Lehrzeit ableisten?«
    »Das weiß ich noch nicht. Vielleicht fängt er erstmal in Tours an.«
    Pierre de Coëtivy besaß im Val de Loire, in Paris und im Norden Werkstätten. Er war ein anerkannter
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