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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin
Autoren: Jocelyne Godard
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erwartungsvoll ansah, sein Geheimnis anvertraut.
    Nie zuvor hatte er einer Menschenseele gesagt, was sein Meister für ihn war. Darüber sprach er nur mit seiner Halbschwester Isabelle, die auf ihrem Landsitz La Baume im Burgund lebte.
    Wie hätte er den Tag vergessen können, an dem er in der Kathedrale von Angers ausgiebig den wunderschönen Gobelin »Die Apokalypse« bewundert hatte, um all die Symbole zu verstehen, die darauf zu sehen waren. Ja, an jenem Tag hatte ihnen Isabelle, ihm und Meister de Coëtivy, diese sonderbare Geschichte erzählt, die ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen sollte. Einmal das von Coëtivy, weil Jacquou nun die Wahrheit über ihre Verwandtschaft wusste, während er sich bis dahin für einen Waisen gehalten hatte. Und dann das des kleinen Jungen, der damals gerade mal acht Jahre alt war.
    Jacquou lehnte sich an die hölzerne Wand der Kutsche und holte tief Luft.
    »Ich erzähle dir jetzt ein Geheimnis. Du musst aber schwören, dass du es niemandem verrätst.«
    Alix sah ihn mit ihren großen strahlenden Augen verliebt an.
    »Hast du es noch keinem erzählt?«
    »Niemandem!«
    Zum Zeichen ihrer Einwilligung nickte sie heftig, und ihre kastanienbraunen Locken hüpften auf und ab.
    »Ich schwöre, dass ich dein Geheimnis für mich behalten werde.«
    Da lächelte er sie an, nahm ihre Hand und flüsterte:
    »Meister Coëtivy ist mein Vater.«
    »Dein Vater!«, raunte sie.
    »Ja! Isabelle hat es mir gesagt.«
    »Und wer ist Isabelle?«
    »Meine Halbschwester. Sie ist viel älter als ich. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.«
    Jacquou fühlte sich seltsam erleichtert. Es war, als hätte man ihm diese schwere Last abgenommen, die er seit sechs Jahren mit sich herumtrug. Endlich hatte er dieses bedrückende Geheimnis entschleiert und jemandem preisgegeben. Und dieser Jemand war auch nicht einfach irgendwer! Ab sofort teilte Alix dieses Geheimnis mit ihm. Himmel, war er froh, dass sie es war, die es jetzt erfahren hatte; ganz bestimmt würde sie verstehen, wie wichtig das für ihn war und dass er ihr damit sein Vertrauen bewiesen hatte. Er nahm ihre kleine Hand und drückte sie ganz fest. Damit wollte er ihr für ihren Beistand und ihre Verschwiegenheit danken.
    »Ist Meister Coëtivy darüber nicht auch glücklich? Oder warum will er es niemandem sagen?«
    »Ich glaube, es ist wegen Dame Bertrande.«
    »Ist sie nett zu dir?«
    »Sie liebt mich wie einen eigenen Sohn«, antwortete Jacquou seufzend, »aber vielleicht möchte sie nicht, dass ich das wirklich bin.«
    Wieder schüttelte Alix die langen Haare, die ihr in Wellen über die Schultern fielen. Durch das Fenster fiel ein blasser Sonnenstrahl und ließ eine Locke dunkelrot aufleuchten. Jacquou verspürte das große Bedürfnis, sie zu berühren und behutsam mit ihr zu spielen. Trotz seiner vierzehn Jahre fühlte er sich von so viel Anmut zutiefst verwirrt.
    Als spürte das Mädchen, was insgeheim in ihrem Gefährten vorging, warf sie sich ihm in die Arme und genoss den Kuss, den er auf ihre Lippen drückte. Sie war wie verzaubert, willenlos, und wünschte sich, dass dieser Augenblick nie enden würde.
    Doch da riss sie plötzlich eine Stimme unsanft aus ihrer beiderseitigen Verzückung, und die Gegenwart hatte sie wieder.
    »Jacquou, wir sind da!« Annettes Kopf tauchte in dem Türspalt auf. Als sie die beiden eng umschlungen sah, lächelte sie insgeheim, tat aber so, als wäre sie ärgerlich.
    »Jetzt ist es aber genug, Kinder! Was macht ihr denn da? Jacquou geht sofort zu seinem Wagen. Versuch ein bisschen zu schlafen, Alix. Ich bring dir später etwas zu essen.«
    »Darf sie nicht ein bisschen raus?«, fragte Jacquou unbekümmert und stand auf, um die Kutsche zu verlassen.
    »Doch, natürlich – sie hat die Wahl!«, sagte Annette ganz ruhig. »Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder sie geht raus, lässt sich blicken und wird auf der Stelle zurück nach Nantes und zu den Nonnen gebracht, die sich dann um sie kümmern werden. Oder sie bleibt in ihrem Versteck und kommt mit uns nach Amboise.«
    »Ich komme mit nach Amboise«, entschied Alix ohne Umschweife. »Auf gar keinen Fall will ich zurück nach Nantes.«
    »Dann musst du machen, was ich dir sage, und in deinem Versteck bleiben. Gaëlle oder ich bringen dir später ein Abendessen, und ich glaube, Eloïse wollte dir auch ein Weilchen Gesellschaft leisten. Du weißt ja, dass sie vor dem Zubettgehen gern einen Spaziergang macht, weil sie dann besser schlafen kann.«
    Alix nickte
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