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Die Seele des Ozeans

Die Seele des Ozeans

Titel: Die Seele des Ozeans
Autoren: Britta Strauß
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würde es spüren, wenn ihr etwas widerfahren wäre. Aber was spürte er eigentlich? Angst. Schreckliche Panik und Kälte, die nichts mit dem Wind zu tun hatte.
    Ein Leuchten etwa fünfzig Meter vor ihm zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Mit polterndem Herzen rannte er darauf zu. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen. Zuerst erinnerte es ihn an eine riesige, gestrandete Leuchtqualle.
    Das Ding hatte die Größe eines Schweinswals, aber es war unförmiger als ein solches Tier und glomm in gespenstischem Blau, wie das Meer in besonders warmen Sommernächten, wenn Schwärme winziger Tiere in der Brandung leuchteten.
    Noch ehe Angus Genaueres erkennen konnte, spürte er, dass etwas mit diesem Ding nicht stimmte. Es war lebendig. Es pulsierte, bewegte sich und zuckte wie ein sterbendes Tier. Das Gewebe, durchzogen von silbernen Adern, schien etwas zu umschließen.
    Etwas, das aussah wie …
    Angus fiel auf die Knie. Nein! Nein! Nein!
    Er griff in das gallertartige Ding hinein, wollte es mit seinen Fingern zerfetzen, wollte Fionas Leib befreien und hinausziehen, doch das Gewebe regenerierte sich, sobald seine Nägel Furchen hineinrissen. Wo er es zerstörte, fügte es sich wie fließendes Wasser neu zusammen. Wo er Stücke herausriss, füllten sich die Löcher binnen weniger Sekunden mit glimmendem Gewebe. Was zur Hölle war das?
    „Fiona!“ Angus konnte nicht schreien. Er wimmerte und schluchzte, keuchte und flüsterte.
    „Oh Gott! Was ist das? Was ist passiert? Fiona! Ich hole dich da raus! Ich helfe dir. Halte durch!“
    Wie von Sinnen riss und zerrte er an dem Kokon. Er musste sie befreien! Er musste! Glühende Klumpen zähen Schleims flogen zu allen Seiten, doch das Gewebe entstand schneller neu, als er es zerstören konnte. Es wurde heißer, immer heißer, bis es sich anfühlte, als tauchte er seine Hände in die Nesseln einer Feuerqualle. Er würde sie beide verlieren! Seine Frau und sein Kind!
    „Fionaaaa!“
    Ihr Körper begann zu verblassen. Die Augen waren geöffnet, und Angus bildete sich ein, dass sie sich bewegten und seinen Blick suchten. Ihr Gesicht verschwand im glühenden Gewebe, dann ihre Brüste, ihre Arme, ihre Hände. Die Frau, die er über alles liebte, verschwand vor seinen Augen. Großer Gott, dieses verdammte Ding fraß sie bei lebendigem Leib!
    Noch einmal bot er all seine Kraft und Verzweiflung auf, doch Fionas Körper wurde unaufhörlich und immer schneller von dem Gallertwesen aufgelöst. Das Leuchten nahm an Kraft zu. Es wurde so hell, dass Angus geblendet wurde. Er schlug die Hände vor seine Augen und spürte, wie das brennende Licht seinen Körper überzog. Eine Explosion aus unerträglichem Glanz. Er verlor die Besinnung.
    Als Angus Bewusstsein wiederkehrte, war alles dunkel.
    Nein, nicht ganz dunkel. Vor ihm schimmerte ein kleiner Körper. Ungläubig rieb er sich die Augen. Das Gallertwesen war zu einer schleimigen, silberblauen Pfütze zerflossen, in der ein Baby lag.
    Fionas Kind!, schrie sein erster Instinkt. Dein Kind! Rette es!
    Aber der neugeborene Junge, der vor ihm lag, überzogen von Resten aus schimmerndem Schleim, erfüllte ihn mit Entsetzen. Seine Haut schimmerte wie Mondlicht. Ein silbriger Flaum bedeckte den Kopf, die Augen waren von so hellem Türkis, das ihr Anblick kaum zu ertragen war.
    Hilfesuchend starrten sie zu ihm hinauf. Was, bei allen Höllengeistern, war das für ein Geschöpf?
    Der Körper des Kindes, seine Hände, sein Gesicht – all das war zu zierlich, zu perfekt. Nicht die Formen eines Babys. Und wie es ihn anblickte. Schweigend und wissend, bohrend geradezu, sodass Angus sich fühlte, als müsse er hier und jetzt alle Sünden offenlegen, die er je begangen hatte.
    Ein Teil in ihm wollte nach dem Kind greifen und es an sich drücken, um wenigstens etwas von Fiona festzuhalten, aber der andere ekelte sich davor. Dieses Wesen hatte seine Frau getötet. Es war schuld an ihrem Tod, und es war schuld am Tod ihres gemeinsamen Sohnes. Angus glaubte, den Verstand zu verlieren. Er wiegte sich vor und zurück, vor und zurück. Immer wieder. Vor und zurück.
    Nimm ihn an!, verlangte seine Vernunft. Er ist alles, was dir bleibt. Nimm ihn. Fiona hätte es so gewollt. Lass ihn nicht allein.
    Das Baby verzog sein Gesichtchen zu etwas, das wie ein Lächeln aussah. Angus konnte kaum noch atmen vor Schmerz. Wieder zog sich ein dunkler Vorhang vor seinen Augen zu, und dann sah er seinen eigenen Händen dabei zu, wie sie sich zitternd ausstreckten. Sie überbrückten die
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