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Die Seele des Ozeans

Die Seele des Ozeans

Titel: Die Seele des Ozeans
Autoren: Britta Strauß
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Der Geruch nach Staub und modrigem Papier stieg ihm in die Nase. Kjell nahm es entgegen und drehte es behutsam hin und her. Eine wunderschöne Frau zierte den Umschlag, nackt, mit vor der Brust gekreuzten Armen. Sie sah genauso aus wie seine Mutter in jungen Jahren. Offenbar befand sich diese Frau unter Wasser, denn die Strähnen ihres langen Haares umgaben sie wie wogender Tang.
    Die Seele des Ozeans stand in geschwungenen, goldenen Buchstaben unter der Nixe. Kjell fühlte einen unbestimmbaren Stich im Herzen. Vielleicht war es der hingebungsvolle Ausdruck im Gesicht der Frau, die seiner jungen Mutter so ähnlich sah. Vielleicht das Wort Ozean , das wie drei streichelnde Wellen klang, die über die Zunge rollten und genau das vertonten, was das Meer in ihm auslöste: Sehnsucht.
    Kjell drehte das Buch um und las den Klappentext:
    „Geschichten aus den dunklen Tiefen der nordischen See
    erzählen von einer todkranken Schriftstellerin,
    die sich an die einsame Küste Nordirlands zurückgezogen hat.
    Von einem geheimnisvollen Fremden mit dem Blut des Meeres in den Adern,
    der dazu bestimmt ist, für die Liebe das größte aller Opfer zu bringen.
    Sie erzählen die Geschichte eines weißen Narwals
    und die einer Liebe, so tief wie der Ozean.“
    „Es ist von dir?“
    „Woher wusstest du das?“ Fae lächelte verschmitzt. „Ich habe ein Pseudonym benutzt.“
    „Keine Ahnung, ist einfach dein Stil. Warum zeigst du es mir erst jetzt?“
    Sie zuckte nur die Schultern, was er als Antwort akzeptieren musste. In den letzten Jahrzehnten hatte seine Mutter viele Bücher veröffentlicht. Verträumte Märchen, die Welten erschaffen hatten, in denen sich Magie mit grauer Realität vermischte, bis alles in geheimnisvollen Farben strahlte und man glaubte, überall lägen fantastische Rätsel. Fae hatte damit angefangen, als sie sesshaft geworden waren. Oh ja, es hatte eine Zeit gegeben, in der Kjell sie für diese Entscheidung gehasst hatte. An jenem Tag auf dem Indischen Ozean war alles perfekt gewesen. Aber wie aus heiterem Himmel war seine Mutter von einer unerklärlichen Angst überfallen worden. Hals über Kopf hatten sie im nächsten Hafen das Schiff verkauft und waren in eine Kleinstadt nahe Kincraig gezogen. Ohne Begründung, ohne ein erklärendes Wort. Er ging zum ersten Mal in seinem Leben in eine gewöhnliche Schule, abgeschnitten vom Meer und der Freiheit, die fünfzehn Jahre lang selbstverständlich für ihn gewesen war. Ein Teil von ihm, der mal stärker und mal schwächer war, warf ihr diese schrecklichen Jahre immer noch vor.
    „Ich möchte, dass du es liest“, sagte Fae. „Bevor du gehst.“
    „Bitte?“
    „Du hast mich schon verstanden.“
    „Aber das schaffe ich nicht. Morgen Abend muss ich wieder los.“
    Sie zwinkerte ihm zu. Ein vergnügtes Funkeln huschte durch das klare Grün ihrer Augen.
    „Dann solltest du schnell damit anfangen. Die Heldin heißt übrigens genauso wie ich. Eine Schriftstellerin namens Fae, die an der Küste Nordirlands lebt.“
    „Klingt spannend, aber hättest du es mir nicht eher geben können? Ich bin kein Schnellleser wie du. Dafür werde ich ewig brauchen.“
    „Ich hätte es dir eher geben können.“ Der Blick seiner Mutter verlor sich in der Ferne. Er mochte die Art, wie der Wind durch ihre silbernen Haarsträhnen strich, doch etwas in ihren Augen bereitete ihm Unbehagen. Sie sahen traurig aus, wie immer, aber im Gegensatz zu sonst lag ein Sehnen darin, dessen Stärke ihm nicht gefiel. „Vielleicht hätte ich es dir sogar eher geben müssen. Aber ich war zu feige. Bis heute. Weil ich jetzt weiß, dass es der richtige Zeitpunkt ist.“
    „Was meinst du? Der richtige Zeitpunkt wofür?“ Faes Lippen zuckten, als wollte sie lächeln, doch der Ernst trug seinen Sieg davon. Wieder einmal verriet sie ihm ihre Gedanken nicht, zog sich in ihr Schneckenhaus zurück und ließ ihn im Unklaren. Kjell biss sich auf die Unterlippe. Diese Geheimniskrämerei machte ihn irgendwann noch wahnsinnig! Aber er konnte seiner Mutter nicht lange böse sein. Diese verletzliche, traurige Frau stampfte seine Wut mit einem einzigen Blick in Grund und Boden. Sie trauerte um verlorene Zeiten. Um ihre Jugend, um all die fernen Länder, die sie nie wiedersehen würde. Ein schmerzender Kloß brannte in seiner Kehle. Manchmal war seine empathische Gabe ein Fluch. Was brachte es, die Gefühle anderer Menschen zu spüren? Es war eine Last auf seinen Schultern, die er nie ablegen konnte.
    „Er ruft
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