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Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)

Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)

Titel: Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)
Autoren: Patti Callahan Henry
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und alles ging viel zu schnell und gleichzeitig viel zu langsam. Zwei Wochen später räumte ich Mutters Kleiderschrank aus, völlig übermüdet und angespannt. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich allein in ihrem Ankleidezimmer. Und doch war sie überall anwesend – im Zimmer, in meinem Herzen, in meinem Kopf.
    Mutter hatte mich zwar fortwährend mit Anweisungen, Worten und Reden bedacht, aber mir nie mitgeteilt, was nach ihrem Tod mit ihren Sachen geschehen sollte. Sie hatte mir vorgeschrieben, was ich fühlen soll, wohin ich gehen soll, sogar wen ich zu heiraten hatte, aber nie, was in diesem Moment zu tun sein würde.
    Ich hatte ihre Kleidung nach Farbe und Alter geordnet in Kisten und Kästen gepackt, die für die Junior League Newly New bestimmt waren. Einige Stücke hatte ich für mich behalten wollen – die St.-Johns-Kostüme, die Prada-Schuhe, die Chanel-Kleider –, mich dann aber anders entschieden. Nicht nur weil sie weder Lil noch mir passen würden, sondern auch weil sie nicht zu meinem Leben passten. Die Sachen meiner Mutter hatten nichts mit mir zu tun. Dass ich nichts von meiner Mutter behalten würde, war unerwartet, hatte ich meine Mutter doch in so vieler Weise und so oft gebraucht, dass ich sicher gewesen war, ich würde an ihren Überbleibseln genau wie an ihr hängen.
    Schließlich kniete ich vor der abgeschlossenen untersten Schublade der Kommode. Mutters Ballkleider, dick in Plastik eingewickelt, hingen aufgereiht wie bunte Juwelen darüber: Rot, Blau, leuchtendes Orange. In der Hand hielt ich den Schlüssel, den Dad mir gegeben hatte. Dazu hatte er gesagt: »Das ist der Schlüssel zu der verschlossenen Schublade deiner Mutter. Bitte kümmere du dich darum. Ich ertrage es nicht, ihre Sachen zu sehen oder anzufassen. Kannst du das machen?« Dann war er mit Rusty Golf spielen gegangen.
    Ich warf den Schlüssel von einer Hand in die andere. Ich wollte diesen letzten und winzigen Triumph mit allen Sinnen genießen – den Moment, in dem ich diese Schublade ohne ihre Erlaubnis öffnete. Aber irgendwie fühlte es sich nicht nach Sieg an, sondern nach purer Leere.
    Ihre Worte hallten in meinem Kopf nach, als ob sie mich beobachten würde: Jeder Wunsch, der in Erfüllung geht, ist ein Verlust.
    Ja.
    Das Schloss im polierten Holz verhakte sich. Ich steckte den Finger in den Spalt zwischen Schublade und Kommode und zog. Nur zwei Dinge lagen da: ein großes, ledergebundenes Buch und ein silberner Füller mit einem eingravierten keltischen Zeichen.
    Der Größe nach hielt ich das Buch für eine Bibel und fühlte mich betrogen. Ich zog die Schublade ganz heraus, schob sie in die Mitte des Zimmers und nahm das Buch in die Hände. Es war schwer, fühlte sich alt und gewichtig an. Das Leder war glatt und abgenutzt, in der linken oberen Ecke hatte es eine kleine Delle, als hätte Mutter dort über die Jahre immer wieder den Daumen hin und her gerieben. Das Buch war mit einem geflochtenen Lederbandumwickelt, an dessen Ende ein blauer Stein hing. Ich öffnete den Knoten und schlug es in der Mitte auf. Das mache ich mit jedem Buch – ich öffne es irgendwo in der Mitte und lese eine Seite, um zu sehen, ob die Worte mir etwas sagen. Manche Menschen schlagen Bücher immer am Anfang auf, andere ganz am Ende. Wenn ich nicht ganz falschliege, hatte Mutter Bücher immer ganz am Ende aufgeschlagen – um zu sehen, wie die Geschichte ausging, bevor sie sich überhaupt zum Lesen entschloss.
    Dieses lederne Buch hatte ich noch nie gesehen. Ich ging ins hell erleuchtete Schlafzimmer hinüber, setzte mich auf die Bank am Ehebett meiner Eltern und blätterte die Seiten durch. Die Handschrift meiner Mutter in schwarzer Tinte bedeckte Seite um Seite des dicken, cremefarbenen Papiers. Sie schrieb in langgezogenen Bögen, die unten links und oben rechts offen waren.
    »Was ist das?«, murmelte ich, mit dem Finger über einen Satz irgendwo in der Mitte einer Seite fahrend.
    Heute Nacht verstecke ich mich in diesem Haus mit gebrochenem Herzen. Diese Zerbrochenheit habe ich noch nie erlebt. Aber ich fühle mich nicht zerbrochen, eher leer.
    Mein Herzschlag setzte aus, wie wenn man unter Wasser den Atem anhält, und wenn man einatmet, stirbt man. Ein Schauer lief mir über den Rücken, ich hob den Kopf und starrte auf den Marmorkamin, über dem das gerahmte Ölgemälde meiner Mutter im Hochzeitskleid hing. Dann schlug ich die erste Seite auf.
    Für meine geliebte Enkelin, Lilly,
    mit all den Geheimnissen
    und der Kraft in
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