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Die schwarzen Raender der Glut

Die schwarzen Raender der Glut

Titel: Die schwarzen Raender der Glut
Autoren: Ulrich Ritzel
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Backsteinhaus, dessen Vorgarten mit einem schmiedeeisernen Zaun gegen die Straße abgegrenzt ist. Er klingelt an dem Schild einer neurologischen Praxis und tritt ein. Das Haus ist durch eine Klimaanlage gekühlt, plötzlich spürt er den Schweiß auf seinem Körper.
    Die Assistentin im Sekretariat sieht zu ihm hoch und lächelt. Das sollte sie nicht tun, findet der Mann. Sie hat schiefe Zähne, und gelbe dazu. »Bei diesem schönen Wetter sollten Sie aber nicht zu uns kommen müssen.«
    An der Wand hinter dem Arbeitsplatz der Assistentin hängt ein großes blaues Bild. Es ist nichts als blau, und die dunkle satte blaue Farbe scheint mit einem Spachtel aufgetragen. Vermutlich ist es Acryl. Der Mann weiß, dass in manchen Therapien damit gearbeitet wird. Er sieht wieder zu der Assistentin. »Ich wollte das Rezept abholen«, sagt er. »Der Doktor hat mir am Telefon gesagt, es liegt für mich bereit.«
    Die Assistentin hat das Lächeln eingestellt. »Ich weiß.« Sie sieht einen Hängeordner durch. »Sie hören ja nicht auf mich. Aber es gibt einen Lauftreff, da sind wirklich nette Leute drin. Auch Patienten von uns. Die schwören darauf. Jetzt wisse sie wieder, was Lebensfreude ist, hat mir eine Frau neulich gesagt. Kein Medikament schafft das.«
    »Ich weiß«, antwortet der Mann. »Aber ich bin zu schwer. Ich muss erst abnehmen. Das geht sonst auf die Bänder.«

    Die Assistentin zuckt mit den Achseln. Dann hat sie das Rezept gefunden und reicht es ihm.
     
    »Er warf ihm die Gewänder auf die Schulter . . . welche er für den . . . Ausgang geholt hatte«, übersetzt der blonde Junge, angestrengt über den Text gebeugt, »sittsame Gewänder des ordnungsgemäßen Lebens, dessen Armut . . . mit dem Waschtisch des . . . Maskenballs beschworen wurde.« Erwartungsvoll sieht er zu Birgit hoch. Im Klassenzimmer hängt der strenge Geruch einer die Lider beschwerenden vierten Schulstunde. Niemand hört zu.
    »Thorsten«, sagt Birgit sanft, »überlegen Sie noch einmal, was Sie da übersetzt haben? Il lui jeta sur les epaules les vêtements qu’il avait apportés pour la sortie . Wer wirft da wem etwas über die Schulter?«
    »Ihm wirft er das«, antwortet Thorsten. »Einem ihm halt.«
    »Und sind Sie ganz sicher, dass jurer avec quelq’un beschwören heißt?« Thorsten zuckt mit den Achseln. Birgit sieht sich resigniert um. »Phan, versuchen Sie es?«
    Phan ist der Sohn eines vietnamesischen Ordinarius (Angewandte Mathematik). »Er legte ihr den Mantel über die Schultern, mit dem sie ausgegangen war«, übersetzt er, als ob er den fertigen Text vorlese, »einen bescheidenen Alltagsmantel, dessen Ärmlichkeit in einem schreienden Gegensatz zur Eleganz ihres Ballkleides stand.«
    Birgit nickt. »Na also. Glauben Sie nicht, Thorsten, dass das eher einen Sinn ergibt?«
    Der blonde Junge verzieht das Gesicht. »Das is nich fair. Bei Charlie zu Hause reden sie zum Nachtisch Französisch.« Eines der Mädchen kichert. Bettina? Nein, die betrachtet ihre lackierten Fingernägel.
    Phan bemerkt, seines Wissens sei Thorsten bisher noch nicht bei ihm eingeladen gewesen.
    »Das Problem ist, dass diese ganze Geschichte keinen Sinn ergibt«, wirft Donatus (Internationales Zivilrecht) ein. »Ich verweise nur auf den Schluss. Da beschwert sich die Freundin,
dass sie das Collier so spät zurückbekommt, dann schaut sie es aber nicht einmal an, und nach zehn Jahren will sie noch immer nicht gemerkt haben, dass sie statt einer falschen eine echte Kette im Tresor hat. Natürlich versteht da einer, der ein bisschen einfacher gestrickt ist, nur noch Bahnhof.«
    Thorsten (Regierungsdirektor, Kreiswehrersatzamt) runzelt die Stirn.
    Bettina (Chefarzt Endokrinologie) hat den Blick von ihren Fingernägeln losgerissen und richtet große schläfrige grüne Augen auf Birgit. »Da ist noch was. Maupassant hat das doch irgendwann nach 1870 geschrieben, oder lieg ich da falsch?«
    Birgit, plötzlich unsicher geworden, nickt zurückhaltend.
    »Also. Damals hat es bereits Versicherungen gegeben, Assekuranzen hieß das, glaub ich. Und wenn der Schmuck wirklich kostbar gewesen wäre, hätte diese Madame Forestier ihn auch versichern lassen. Also wäre es die erste Frage von Mathilde gewesen, ob das Collier versichert ist, und die Madame hätte sagen müssen, nöh, isses nich, hat auch bloß vier Mark fünfzig gekostet, und wir könnten alle ins Freibad oder die Backyard Boys hören, Nothing is like it seems to be , da ist doch diese ganze Geschichte schon
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