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Die schwarzen Raender der Glut

Die schwarzen Raender der Glut

Titel: Die schwarzen Raender der Glut
Autoren: Ulrich Ritzel
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kräftigen Schluck, dann schraubt er die Flasche wieder zu und stellt sie zurück. Er überlegt kurz, ob er eine der Tabletten nehmen soll. Es ist nicht mehr nötig. Er geht zum Besenschrank und holt die Trittleiter. Im Wohnzimmer schließt er mit einem Verlängerungskabel den Schlagbohrer an und steigt auf die Leiter. Er würde zwei Haken brauchen, und er würde sie seitlich der Deckenlampe anbringen, damit er nicht auf die Stromleitung trifft.
    Er setzt den Schlagbohrer auf und drückt den Starthebel.
Kalkiger Putz spritzt ihm in die Augen, aber die Betondecke ist so hart, dass sie den Schlagbohrer abfedern lässt wie eine Gummiwand. Der Mann lässt den Starthebel los und wischt sich den Kalk aus den Augen. Dann setzt er den Bohrer noch einmal an. Die Maschine kreischt auf und versucht auszubrechen, aber der Mann hält sie mit harten kräftigen Händen gepackt und zwingt sie, sich in den Beton zu fressen.
    Schließlich setzt er den Bohrer wieder ab. Sein Gesicht ist kalkverschmiert. Das Loch ist noch nicht tief genug, bei weitem nicht. Er stellt eine höhere Geschwindigkeit ein und versucht es erneut. Das Kreischen schwillt an, aber diesmal dringt der Bohrer tiefer.
    Das müsste reichen.
    Der Mann lässt den Hebel los. Irgendjemand hämmert gegen seine Wohnungstür. Er steigt von der Leiter, geht zur Tür und späht durch den Spion.
    Vor der Tür steht ein dicker unrasierter Mann in einem schmuddeligen T-Shirt. Der Bosnier aus der Dachwohnung.
    Der Mann öffnet.
    »Wastu machen für Krach? Ich haben Spätschicht, Menschekind.«
    »Entschuldigung«, sagt der Mann. »Ich bin gleich fertig. Nur noch einmal. Kommt nicht mehr vor.«
    Er schließt die Tür und kehrt zur Trittleiter zurück. Der Dübel passt in das Bohrloch. Er dreht den Haken ein, bis er unverrückbar fest sitzt.
    Wenig später hat er auch den zweiten Haken eingedübelt. Er steigt von der Trittleiter und geht mit dem Schlagbohrer in die Küche zurück und verstaut ihn in einer Schublade mit anderem Werkzeug. Im Bad wäscht er sich das Gesicht und die Hände. Mit dem Staubsauger säubert er den Teppichboden. Dann geht er durch die Wohnung und schließt die Fenster. Er blickt auf den gegenüberliegenden Block und überlegt, ob er die Jalousie herunterlassen soll. Aber die Alte, die dort sonst immer am Fenster hängt, ist nicht zu sehen. Brave Alte. Schieb dein Wägelchen.

    Aus seiner Kommode holt er Schreibzeug und setzt sich an den Tisch. Er hat lange keinen Brief mehr geschrieben, und auch früher hatte er es nicht gerne getan. Lange überlegt er, schließlich fällt ihm ein, dass er im Grunde nur eine Frage hat, und dass sie ganz einfach ist. In einem Zug schreibt er Datum, Anrede, den einen Satz und darunter seinen Namen. Er liest den Brief noch einmal durch, dann steckt er ihn in einen Umschlag, klebt den Umschlag zu und adressiert ihn.
    Er sollte noch aufs Klo.

Wieshülen, 28. Juni, abends
    Die Sonne ist untergegangen, und ein rötlicher Schimmer zieht sich über den Himmel. Die Tafelberge der Alb schieben sich in die dunstige Ebene vor, scharf umrissen und doch fast durchscheinend, als seien sie aus dunklem Glas. Tief unten auf der Bundesstraße haben die Autofahrer die Lichter eingeschaltet und kriechen aneinander vorbei wie Prozessionen von Leuchtkäfern. Sie kommen von den Industriedörfern des Unterlandes, deren Lichterteppiche sich im Nordwesten erstrecken, oder sind auf dem Weg dorthin.
    Neben dem Vorsprung, auf dem Florian Grassl steht, sind Stufen in den Fels geschlagen. Hier beginnt der Franzosensteig, doch ein weißrotes Plastikband versperrt den Weg, der zwischen Krüppelkiefern und Buchengehölz hindurch in eine Tiefe geführt hätte, die bereits mit der Dunkelheit zu verschmelzen beginnt. Den Steig hinab kam man sonst ins Tal hinunter und zu der Bushaltestelle dort. Aber der Dauerregen des Frühsommers hat einen Teil des Weges weiter unten weggespült und nahezu unpassierbar gemacht.
    Florian Grassl, ein mittelgroßer, trotz seiner kaum 30 Jahre schon etwas dicklicher Mann, blond und mit sorgfältig gestutztem Schnurrbart, hat ohnehin nicht vor, ins Tal zu gehen. Beim Abendessen hat er zwar angekündigt, er wolle noch nach den Fledermäusen sehen. Gerolf Zundt hatte ihn nur leer angesehen. Schließlich macht Grassl öfters solche Spaziergänge. Und am Felsen gibt es wirklich Fledermäuse.
    Grassl dreht sich um und geht auf dem Weg zurück. Nach
wenigen Metern kommt er zu der Kreuzung mit dem Wanderweg, der den Albtrauf entlangführt.
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