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Die Schrift in Flammen

Titel: Die Schrift in Flammen
Autoren: Miklós Bánffy
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Sie richtete sich im Wasser auf – es reichte ihr hier nur noch bis zur Schulter – und blickte hinaus. Man rief draußen auf dem Küstenboot durch ein Megafon. »Warum? Was ist geschehen?« Das Boot geriet jäh in Bewegung, zwei Matrosen begannen darin aus Leibeskräften zu rudern.
    Margit sah sich um: Sie suchte Judith. Sie war vor kurzem noch hinter ihr gewesen. Nun war sie nirgends!
    Instinktiv und sofort nahm sie als sicher an, dass Judith sich aufs offene Meer in die Richtung der Strömungen hinausbegeben hatte. Von da aus war nur noch ein kleiner Punkt zwischen den Wellen sichtbar, doch Margit zweifelte nicht, dass es sich dabei um Judith handelte. Sie stürzte sich in die Fluten, und im Wettkampftempo strebte sie nach dem schwarzen Punkt. Sie hatte keinen anderen Gedanken als Judiths Rettung. Sie hörte nicht, dass an der Küste Rufe ertönten, dass Leute herumliefen und dass ein Motorboot ins Wasser gelassen wurde.
    Sie musste gegen die Strömung – Flut herrschte – hart arbeiten, um das Tempo zu halten. Die Wellen rollten über sie hinweg, doch sie kämpfte sich weiter vorwärts, bis ihr die Kräfte ausgingen. Das Rettungsboot befand sich schon auf dem Rückweg, als es sie erreichte – glücklicherweise, denn sie war am Ende. Man musste sie aus dem Wasser ziehen, so erschöpft war die kleine Margit.
    Sie kauerte sich keuchend neben ihre Schwester, die leblos im Kahn lag. Nun schloss sich ihnen das Motorboot der Rettungsmannschaft an, sie hoben Judith hinüber, und während sie der Küste zurasten, begannen sie gleich mit der künstlichen Beatmung.
    Am Strand angelangt, fuhren sie damit fort.
    Adrienne kam in diesem Augenblick am Lido an.
    Der gewaltige Menschenauflauf neben einer Capanna fiel ihr auf. »Was ist los?«, fragte sie jemanden. »Una donna ungheresa è morta«, sagte dieser.
    Sie dachte gleich entsetzt an Judith. Gewaltsam brach sie sich Bahn durch die Menge. Die arme Judith lag tatsächlich rücklings mit zerrissenem Badeanzug auf dem Sand; ihre kleinen Mädchenbrüste waren frei, ihr magerer Hals, die Rippen, das Becken nackt; zwischen den Reihen der Schaulustigen machten in dieser Lage drei Rettungsleute ihre Belebungsversuche.
    Judiths Augen öffneten sich gerade jetzt. Es waren verwunderte Augen, die nicht begriffen, was sie sahen. Dann schlossen sich die Lider erneut. Doch nun atmete sie schon normal. Man deckte sie mit einem Bademantel zu und brachte sie auf einer Tragbahre in die Wohnung. Man legte sie zu Bett, und sie schlief ein. Die kleine Margit war auch benommen, man musste sie auf dem Weg ins Hotel stützen, obwohl sie sich dagegen zu wehren suchte, doch ihre Beine trugen sie kaum. Ähnlich erging es sogar der alten Mademoiselle Morin, die bei Judiths Anblick aufschrie: »Ô mon Dieu! La pauvre enfant!«, und sie fiel auf dem Sand um. Ein Matrose warf sie sich über die Schulter und trug sie hinauf, als wäre sie eine zerbrochene Puppe.
    Margit kam bald zu sich. Am Nachmittag schon machte sie sich daran, Judiths Sachen zu durchsuchen. Unter der Wäsche stieß sie auf ein geöffnetes Päckchen, aus dessen Adressierung hervorging, dass es in Mezővarjas weitergeleitet worden war. Es war, wie der Poststempel verriet, tags zuvor angekommen. Es enthielt ein Bündel von Briefen, die von Judith stammten. Und dazu ein Schreiben von fremder Hand:

    »Verehrte Comtesse«, so begann es, »ich habe vernommen, dass ein gewisser Baron W. infolge einer ziemlich hässlichen Angelegenheit über die Grenze geflüchtet ist. Dieser Baron W. hat mich gelegentlich besucht. Er zeigte mir einmal – weil er vertraulich tun oder sich brüsten wollte – die hier beigelegten Briefe. Ich sagte mir, dass er sie, so wie mir, auch anderen zeigen könnte, und darum nahm ich sie ihm weg und habe sie bis jetzt aufbewahrt. Nachdem dann die besagte Sache ans Tageslicht gekommen ist, habe ich lange überlegt, was ich mit den Briefen tun soll. Ich wollte sie verbrennen, eine Überlegung hielt mich aber ab: Vielleicht bereitet Ihnen der Gedanke Kummer, dass sie sich in der Hand von Baron W. befinden, der (und dazu wäre er fähig) sie Ihnen oder Ihrer Familie gegenüber zur Erpressung benutzen könnte. Darum habe ich beschlossen, sie Ihnen zuzustellen, damit Sie sich persönlich überzeugen können: Diese Gefahr besteht nicht. Ich darf Ihnen versichern, dass niemand von dieser Angelegenheit Kenntnis erhalten und niemand die Briefe bei mir je gesehen hat.
    Frau Sára Lázár«

    Margit und Adrienne lasen dies
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