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Die schoene Helena

Titel: Die schoene Helena
Autoren: Jacqueline Navin
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Speisekammer. Nachdem er sie verspeist hatte, schlenderte er durch die Räume des Erdgeschosses.
    Von verfrühtem Besitzerstolz erfasst, schaute er sich um und überlegte, wie die römischen Büsten ohne die Staubschichten aussehen mochten, wie schön das Blattgold schimmern würde, wenn die Fenster geputzt wären.
    Angesichts der schmutzigen Möbel und der zerschlissenen, von Motten zerfressenen Vorhänge verflog seine gute Laune. Dornröschen ... Ja, er fühlte sich tatsächlich wie in einem verzauberten Schloss. Unwillkürlich erschauerte er. Der Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte, verstärkte die geisterhafte Atmosphäre. Mit langsamen Schritten durchquerte er ein Musikzimmer, eine Ahnengalerie, den Ballsaal, der offensichtlich als Abstellraum benutzt wurde.
    In einem kleinen Salon erregte ein Porträt, das über dem Kamin hing, seine Aufmerksamkeit. Er trat näher und hielt kurz inne, als sich das Rascheln fliehender Mäuse ins Geräusch seiner leisen Schritte mischte. Dann betrachtete das gemalte Gesicht.
    Helena ... Oder doch nicht?
    Die Frau auf dem Gemälde glich ihr. Aber die Augen erschienen ihm kälter. Leer. Ohne Glanz. Über den Wangenknochen lag ein rosiger Schimmer. Die vollen Lippen wirkten etwas zu sinnlich für die ansonsten ernsten Züge. In einem Kleid, das aus dem letzten Jahrzehnt stammte, blickte sie hochmütig in die Ferne, als würde ihr die Kunst des Malers nichts bedeuten.
    Ja, eindeutig Helena - diese Arroganz war unverwechselbar.
    Im tiefen Ausschnitt zeigte sich ein üppiger Busenansatz. Bei diesem Anblick verspürte Adam ein heftiges Verlangen. Offenbar war sie nach der Entstehung des Porträts abgemagert.
    Welch eine reizvolle Frau ... Hatte der Maler seinem Modell geschmeichelt? Oder hatte sie wirklich die unglaubliche Mischung aus abweisender Kälte und verhaltener Leidenschaft ausgestrahlt?
    Und warum hatte sie sich dermaßen verändert? Warum glich Rathford Manor einer Gruft? Wieso kleidete sich die Herrin des Hauses wie eine gewöhnliche Dienerin? Warum versteckte sich eine so hinreißende Schönheit vor der Außenwelt?
    „Mr Mannion!“ Von der Tür her erklang eine weibliche Stimme, und er wandte sich zu einer Frau in mittleren Jahren, die einen karierten Rock und eine Bluse trug. Um die gebeugten Schultern hatte sie ein Tuch gelegt. Mit ihren funkelnden Augen und der Stupsnase sah sie wie ein Kobold aus. Lächelnd stellte sie sich vor. „Ich bin Mrs Kent, die Haushälterin. In Ihrem Zimmer ist alles für Sie vorbereitet, Sir, und Ihr Gepäck wurde aus dem Gasthof hierhergebracht. Ein Dienstmädchen hat Ihre Sachen schon ausgepackt. Soll ich Ihnen den Weg zeigen?“
    „Ja, bitte.“ Bevor er den Raum verließ, warf er einen letzten Blick auf das Porträt, und seine Neugier wuchs.
    Was war geschehen?
    Auf der Schwelle des Speisezimmers holte Helena tief Atem und straffte die Schultern. Aber als sie eintrat, traf sie nur ihren Vater an, der am Kopfende der langen polierten Tafel saß. Ärgerlich musterte sie das edle Leinentischtuch, die funkelnden Kristallgläser und das kostbare Porzellan. „Heute war Mrs Kent sehr beschäftigt“, bemerkte sie und nahm zur Rechten ihres Vaters Platz.
    „Wird auch langsam Zeit für gewisse Veränderungen“, murmelte er in sein bernsteinfarbenes Getränk. Obwohl ein gefüllter Weinkelch neben seinem Gedeck stand, umklammerte er den Kristallbecher mit Whisky.
    „In der Tat.“ Mit spitzen Fingern schüttelte Helena ihre Leinenserviette aus. „Keine Tabletts mehr in unseren Privaträumen. Da sitzen wir wirklich und wahrhaftig wie zivilisierte Leute am Tisch und dinieren gemeinsam.“
    „Bitte, Helena, nicht jetzt.“
    „Verzeih mir, Vater. Ich bin etwas verwirrt, nachdem ich mit einem völlig fremden Mann verlobt wurde. Trotzdem darf ich nicht über solche Dinge sprechen, und ich muss stets auf meine Manieren achten.“
    „Verdammt!“, fluchte er und leerte sein Glas.
    „Stets Haltung zu bewahren - das wurde mir jahrelang eingebläut.“
    „Von deiner Mutter.“
    „Und wo warst du, als sie mir die strengen Regeln der feinen Gesellschaft beibrachte? Auf der Jagd?“ Mit bebenden Fingern umklammerte sie die Tischkante und beugte sich vor. „Wie gern wäre ich mit dir geritten ... Eines Tages - in meinem siebten Lebensjahr - steckte mich Mutter in ein weißes Kleid mit rosa Satinschleifen am Saum. Dieses Kleid hasste ich ... und ich hasste das Gefängnis, in dem ich aufwuchs. Statt die kleine Dame zu spielen, wäre ich am
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