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Die Schöne des Herrn (German Edition)

Die Schöne des Herrn (German Edition)

Titel: Die Schöne des Herrn (German Edition)
Autoren: Albert Cohen
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mit Éliane. Wenn sie Christenverfolgung spielten, war sie die heilige Blandine, die von den Heiden den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurde, und Éliane war der Löwe und brüllte in einen Trichter. Oder sie war eine heldenhafte christliche Jungfrau, an das Geländer der Treppe, die zum Dachboden führte, gefesselt, und Éliane, ein römischer Soldat, folterte sie, piekte sie mit einer Nadel ins Bein, aber nur ganz wenig, und danach taten sie Jodtinktur darauf. Und die Spiele des Sichfallenlassens. Sie ließen sich von der Schaukel fallen, um sich ein bisschen zu verletzen, oder stiegen auf einen Tisch und dann auf einen Stuhl, krochen durch das Rundfenster unter der Decke und ließen sich ins Badezimmer fallen. Einmal hatten sie die Badewanne volllaufen lassen, und sie hatte sich komplett angezogen ins Wasser fallen lassen. Ich war glücklich, ich wusste nicht, was mich erwartete. Später, als sie fünfzehn und sechzehn waren, die Theatervorstellungen auf dem Dachboden vor dem alten, leicht angeschimmelten venezianischen Spiegel. O der Dachboden Tantléries, der Geruch von Staub und sonnenwarmem Holz, das geliebte Refugium während der Sommerferien, sie und ihre Schwester waren große Schauspielerinnen und deklamierten mit röchelnder Stimme Tragödien. Éliane spielte immer den Helden und sie die Heldin, und sie war abwechselnd in Tränen aufgelöst und gebieterisch, aber der Gipfel der Liebe war für sie, wenn sie mit der Hand die Stirn berührte und zu Boden sank. Éliane, liebste Éliane. Ihr Kummer, als sie erfahren hatte, dass einer ihrer Cousins, ein Student, sich betrunken hatte. Mitten in der Nacht hatte sie Éliane geweckt, und sie waren niedergekniet und hatten für ihn gebetet. »Herr, führe ihn auf den rechten Weg und lass ihn keinen Schnaps mehr trinken.« All das, und letzte Nacht Ingrid. Später, mit sechzehn und siebzehn, die unschuldigen Tanzabende mit den Freundinnen. Man setzte seinen ganzen Ehrgeiz daran, gut tanzen zu können. Diese Abende mussten immer vollkommen sein, wahre Kunstwerke. Idiotisch, aber glücklich und selbstsicher, Mädchen der guten Genfer Gesellschaft, geachtet. All das, und letzte Nacht Ingrid. Es war ja für ihn, um ihn zu behalten, Los, aufstehen.

***

    In ihr Zimmer zurückgekehrt, legte sie sich aufs Bett, nahm eine Praline aus der Schachtel neben ihr, steckte sie in den Mund, öffnete das Ätherfläschchen, atmete tief ein und lächelte der chirurgischen Kälte zu, die in sie eindrang. In Genf, zu Beginn ihrer Liebe, die Wohltätigkeitsvorstellung, die das Personal des Sekretariats organisiert hatte. Er hatte sie gebeten, eine Rolle in dieser Tragödie zu übernehmen, hatte ihr gesagt, er würde gern wie ein Fremder, der sie nicht kannte, im Publikum sitzen und sie als Fremde und ihm so fern auf der Bühne sehen und wissen, dass sie nach der Vorstellung die ganze Nacht ihm gehören würde, und niemand im Saal würde es ahnen. Am Ende jeden Akts, wenn die Zuschauer Beifall geklatscht hatten und sie mit den anderen vor den Vorhang getreten war, hatte sie nur ihn angeblickt, sich nur vor ihm verbeugt. O hohes Glück der Heimlichkeit. Vor der Vorstellung hatte sie ihm gesagt, sie würde im ersten Akt, wenn sie die Stufen herunterkäme, die Hand an die Leiste legen, um den Stoff zu nehmen und ein wenig ihr Kleid hochzuziehen, ihr herrlich tiefblaues Kleid, und durch diese Geste würde er wissen, dass sie, die Fremde und Ferne, in diesem Augenblick an ihn und an ihre Nächte dachte.
    Mit ihrem Zeigefinger drückte sie ein Nasenloch zu, um mit dem anderen die Ätherdämpfe tiefer einatmen zu können. Sie nahm zwei Pralinen, steckte sie in den Mund und zerkaute sie mit Widerwillen. Ihr Triumphmarsch am Tag der Rückkehr des Geliebten. Nackt unter ihrem im Wind knatternden Segelkleid war sie marschiert, voller Begeisterung, Marsch der Liebe, und das Knattern ihres Kleides hatte sie erregt, der Wind auf ihrem Gesicht hatte sie erregt, der Wind auf ihrem stolz erhobenen Gesicht, ihrem jungen liebestrunkenen Gesicht. Sie atmete noch einmal ein, lächelte, Tränen auf dem kindlichen Gesicht, dem gealterten Gesicht, Tränen, welche die Farben der Schminke verlaufen ließen.
    Plötzlich erhob sie sich, stapfte schweren Schrittes durch das stickige Zimmer, das Ätherfläschchen in der Hand, schwer mit den Füßen stampfend, absichtlich unbeholfen, absichtlich alt, zuweilen grotesk hüpfend oder die Zunge herausstreckend, plötzlich vor sich hinmurmelnd, Marsch der Liebe, Marsch meiner
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