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Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen

Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen

Titel: Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen
Autoren: Wolfgang Brenner
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Mann.
    Der tut zuerst so, als sehe er das ihm dargebotene Glas nicht, und senkt den Kopf noch tiefer in die Börsenkurse, die mal wieder – eines der verlässlichsten Rituale – grottenschlecht sind.
    Die Frau nennt ihn beim Vornamen. Nicht liebevoll wie in der Verzückung der zurückliegenden Nacht, nein: amtlich. Der Mann weiß nun, was die Stunde geschlagen hat. Er legt die Zeitung weg. Er zeigt dabei ein missmutiges Gesicht. Er glaubt, das gehört zu einem trauten Frühstück dazu. Seine Frau soll wissen, wie es in ihm aussieht: wegen der Börsenkurse, wegen dem vielen Alkohol, wegen überhaupt allem, vor allem aber wegen der Störung seiner morgendlichen Meditation durch ein unwürdiges Marmeladenglas.
    Dennoch – das ist die urzeitliche Regel, die in jeder Berghöhle und in jedem Hotelspeisesaal die gleiche Gültigkeit hat – drückt er das ihm dargereichte Glas entschlossen gegen die Brust. In der Wildnis, der weiten asiatischen Steppe, unserer phänotypischen Heimat, entfaltet sich das ewige Drama des Werdens und Vergehens wie auf einer Großbildprojektion. Der Jäger winkelt die Arme an, Bi- und Trizepsstrukturen treten hervor. Er legt sein Kinn auf die Brust. Es knackt. Die Frau erschrickt, weil es sich so anhört wie einer seiner Halswirbel. Er gibt ihr das Glas zurück.
    Der Deckel, der auf dem Glas lag wie ein Fels vor der Höhle, hat sich gelöst. Sie bestreicht ihr Brötchen mit Marmelade und wirft ihm dabei Blicke voller Stolz und sexueller Begierde zu, während er grimmig versucht, den Wirtschaftsteil wiederzufinden. Der aber ist ins Feuilleton gerutscht, das seiner Meinung nach nur Weicheier, Tunten und verkrachte Kleinaktionäre lesen. Die göttliche Ordnung ist wiederhergestellt, beide wissen, wo sie stehen.
     
    Schmalenbach bekam das Glas nicht auf. Es war zum Verzweifeln. Der Deckel war wie verschweißt. Er hebelte mit dem Kaffeelöffel. Er schlug mit der flachen Hand auf den Boden des Glases. Er nahm ein Geschirrtuch zu Hilfe und klemmte das Glas zwischen die Knie wie in einen Schraubstock. Er aktivierte Muskelpartien, von deren Existenz er bisher nichts geahnt hatte. Seine Halsschlagader schwoll an. Er wurde hochrot.
    Aber das Glas ließ sich nicht öffnen.
    Elke hatte eine Zigarette angesteckt, inhalierte nachdenklich und schaute ihm zu. »Ich muss nicht unbedingt Marmelade auf meinem Brötchen haben«, sagte sie. In den Ohren des Delinquenten klang es wie: Da freue ich mich die ganze Woche auf mein Marmeladenbrötchen, und du bist nicht mal dazu in der Lage, den Deckel zu öffnen.
    Schmalenbach versuchte es erneut. Längst spürte er den Schmerz nicht mehr, der in seiner Wirbelsäule wütete. Er biss sich auf die Zähne. Er dachte: Warum zum Teufel zerdrücke ich das Glas nicht? Dann würde Elke erschrocken aufspringen, die Splitter würden sich wie Querschläger in die Butter bohren, und das Blut würde aus seiner geschundenen Handfläche schießen. Und Elke würde sich schuldig fühlen, schuld daran, diese Urgewalten entfesselt zu haben. Aus weiblicher Eitelkeit. Unter Tränen würde sie ihm die Hand verbinden und schwören, in Zukunft nur noch Honig aus praktischen Plastikflaschen zu essen.
    Aber nichts dergleichen geschah. Schmalenbach tropfte bereits das Blut aus Nase und Ohren (zumindest fühlte er sich so), aber der Deckel bewegte sich keinen Millimeter. Ihm wurde übel. Er stellte das Glas kurz ab.
    Elke legte ihre Zigarette weg, nahm das Marmeladenglas und drehte es mit einem Ruck auf.
    »Na also«, sagte sie.
    Schmalenbach konnte es nicht fassen. »Warum tust du das?«, fragte er tonlos.
    Elke schmierte sich provozierend pedantisch ihr Brötchen mit Himbeermarmelade. »Sollte ich vielleicht warten, bis du den ADAC gerufen hast?«
    Zynismus war das Letzte, was Schmalenbach in dieser Situation gebrauchen konnte. »Ich war kurz davor, es zu öffnen.«
    Elke musterte ihn mitleidig. »Du klingst wie meine Freundin Inge. Die sagt ihrem Mann seit Jahren, sie sei kurz davor gewesen, und der strampelt sich jedes Mal schlimmer ab.«
    Dieser skandalöse Vergleich war der Gipfel der Unverschämtheit. Frauen schafften es, jede noch so banale Misshelligkeit sofort auf das Sexuelle zu beziehen. Das machte das Zusammenleben mit ihnen ja so schwierig.
    »Eine Frau muss ihrem Mann wenigstens die Gelegenheit geben, seine Stärke zu beweisen«, maulte Schmalenbach.
    Elke biss genüsslich in ihr Brötchen. »Ich bitte dich«, sagte sie mit vollem Mund. »Als ob dein Selbstwertgefühl an diesem
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