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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin
Autoren: Janine Wilk
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jeden Augenblick wieder von seinen Unterlagen auf und den Jungen würde eine unangenehme Standpauke erwarten.
    »Die Insel der Verdammten!«, entfuhr es Francesca so plötzlich, dass alle im Abteil in die Höhe schreckten.
    Sie räusperte sich und fragte in ruhigerem Ton: »Haben Sie schon einmal etwas über die Insel der Verdammten gehört?«
    Fredericks Vater sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Du sprichst unsere Sprache?«, gab er beleidigt zurück, ohne auf Francescas Frage einzugehen. Er vermutete wahrscheinlich, dass sie sich absichtlich nicht als Deutsche zu erkennen gegeben hatte.
    Francesca warf ihm ein entschuldigendes Lächeln zu. »Ich bin zwar in Deutschland geboren, aber meine Mutter ist Italienerin. Beide Sprachen sind für mich so selbstverständlich, dass ich oft nicht bemerke, in welcher ich gerade spreche.« Sie streckte dem Mann die Hand entgegen. »Ich bin Francesca. Francesca di Medici.«
    »Ich bin Gerhard Kessler, das sind meine Frau Ingrid und mein Sohn Frederick.« Er schüttelte ihr die Hand und lächelte ihr zu. »Du trägst einen berühmten Namen, Francesca di Medici.« Er ließ den Namen wie ein Stückchen Schokolade auf der Zunge zergehen.
    Sie zuckte mit den Schultern. »In Florenz vielleicht, hier jedoch nicht. Die Medicis kamen vor einigen Jahrhunderten nach Venedig, um auch in dieser wichtigen Handelsstadt ein Bankimperium zu errichten. Aber es ist meinen Vorfahren nie gelungen, die Macht und den Einfluss zu erreichen wie in Florenz.«
    Das war sogar noch positiv ausgedrückt. In Wahrheit war ihre Familie völlig verarmt und bis auf einen halb verfallenen Palazzo im Herzen Venedigs besaß sie nichts mehr von Wert.
    Frederick hatte sich in der Zwischenzeit interessiert aufgesetzt. Seine Müdigkeit schien plötzlich wie weggeblasen. »Was ist das für eine Insel, von der du gesprochen hast? Diese Insel der Verdammten?«
    Francesca schmunzelte. Sie hatte sich gedacht, dass ihn dies mehr interessieren würde als die langweiligen geschichtlichen Daten.
    Fredericks Vater dagegen tippte mit seinem Zeigefingereifrig auf sein Buch. »In der Buchhandlung haben sie mir erzählt, hier drin stehe alles, was je in Venedig geschehen ist, und von einer Insel mit diesem Namen habe ich kein Wort gelesen!«
    »Das glaube ich gern«, gab Francesca lächelnd zurück. »Ich und meine Cousine Gianna haben die Geschichte dieser Insel von meiner Großmutter erzählt bekommen und sie ist wohl nur unter Venezianern bekannt.«
    Sie machte eine spannungsvolle Pause, ehe sie fortfuhr. »Im Jahr 1630 wurde Venedig von einer schrecklichen Pestepidemie heimgesucht und auf den Kanälen Venedigs fuhren Gondeln voller Leichen. Diejenigen, die Symptome des Schwarzen Todes aufwiesen, wurden auf eine Insel südlich der Stadt in das Lazzaretto Vecchio gebracht – in das Pestkrankenhaus. Viele Venezianer hatten vor diesem Ort noch größere Angst als vor der Pest selbst. Wer dorthin gebracht wurde, fand sich in der Hölle wieder. Die Insel war Tag und Nacht von einer weißen Rauchwolke umgeben. Man sah kaum die Hand vor Augen und der süßliche Geruch raubte einem den Atem. Es war der Rauch der brennenden Leichen.«
    Frederick hing mit aufgerissenen Augen an Francescas Lippen und seine Mutter schlang fröstelnd die Arme um sich.
    »Im Lazarett selbst war es noch schlimmer«, erzählte Francesca mit gesenkter Stimme. »Die Kranken waren so zahlreich, dass sich mehrere von ihnen ein Bett teilen mussten. Es roch nach Verwesung, Urin, Kot und den eitrigen Wunden der Pest. Männer, Frauen und Kinder stöhntenund schrien vor Schmerzen und Not – der Schwarze Tod verschonte niemanden. Aber es gab kaum Krankenschwestern, die sich um die Sterbenden kümmerten. So krochen die Erkrankten auf Händen und Knien durch die Gänge, auf der Suche nach Essen und Trinken. Nur einmal am Tag betraten Helfer die Krankenzimmer und holten die Leichen aus den Betten, um sie zu verbrennen. Manchmal jedoch lebten diejenigen noch, die im Feuer landeten. Seither trägt der Ort diesen Namen – die Insel der Verdammten.«
    »Cool!«, entfuhr es Frederick.
    »Wohl eher gruselig!«, hauchte seine Mutter. Sie war ganz blass um die Nasenspitze geworden. »Eine wirklich schreckliche Geschichte.«
    »Nun, dass es sich tatsächlich so zugetragen hat, will ich nicht beschwören«, beruhigte Francesca sie. »Meine Großmutter ist oft sehr fantasievoll, wenn es um das Ausschmücken von Geschichten geht.«
    »Von dieser Epidemie habe ich auch
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