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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin
Autoren: Janine Wilk
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Nacht schilderte, nahmen auch sie an, dass er nur ein Opfer seiner überschwänglichen Fantasie geworden war.
    Erst sehr viel später sollte jemand nach Venedig kommen, der Rafael Clementonis Erlebnissen Glauben schenken und die Rätsel dieser unheilvollen Nacht entschlüsseln sollte …



 
    N ervös trommelten Francescas Finger auf das Buch, das zugeschlagen auf ihren Knien lag. Einen Großteil der Reise hatte sie mit Lesen verbracht, doch nun, so kurz vor dem Ziel, konnte sie sich nicht mehr auf die Geschichte konzentrieren.
    Ihr Blick blieb an dem Titel hängen – »Das Gänsehaut-Trio und der dunkle Magier«. Es klang spannender, als es in Wirklichkeit war. Jedenfalls starrte Francesca lieber auf die graue Winterlandschaft, die am Zugfenster vorbeiflog, als darin weiterzulesen. Der einzige Farbtupfer weit und breit waren Francescas lange rote Locken, die sich im Zugfenster spiegelten.
    Warum nur hatte ihre Großmutter sie so eindringlich darum gebeten, sofort nach Venedig zu kommen? Am Telefon hatte sie kein Wort über den Grund verlauten lassen. Francesca hoffte, dass es sich um keine schlimme Nachricht handelte und ihre Großmutter nicht ernsthaft krank geworden war. Allerdings hätte sie dann sicher auch Francescas Mutter Isabella nach Venedig bestellt. Doch sie hatte ausschließlich ihre Enkelin darum gebeten, zu kommen …
    Der einsetzende Regen, der in dicken Tropfen an das Fenster des Zuges klatschte, bedeckte ihr Spiegelbild mit Tränen. Francesca lächelte ihm aufmunternd entgegen, doch ihr durchnässtes Ebenbild schien das Lächeln nur widerwillig zurückzugeben. Sie streckte ihm kurzerhand die Zunge heraus. Das hatte sie zuletzt als Fünfjährige getan. Mamma mia, durchfuhr es sie peinlich berührt, wenn wir nicht bald ankommen, fange ich wahrscheinlich noch an, mit mir selbst zu sprechen.
    Zu ihrer Erleichterung hatte die dreiköpfige Familie aus Deutschland, die mit ihr im Abteil saß, keine ihrer Grimassen mitbekommen.
    »… verfolgt von den Franken flohen die Menschen im Jahr 810 in die rivus altus genannte Lagune und siedelten sich auf der fast uneinnehmbaren Inselgruppe an. Das zukünftige Venedig war damals nur ein Archipel aus etwa 100 morastigen Inseln, mit stinkigen Schlammkanälen und voller Malaria-Mücken …«
    Francesca stöhnte innerlich auf. Seit Verona saß sie mit der Familie zusammen in einem Abteil und fast genauso lange hielt der Mann seinem Sohn und seiner Frau nun schon einen Vortrag über Venedig. Einleitend hatte er ihnen ein Kapitel aus Goethes »Italienische Reise« vorgelesen und nun hielt er ein Buch mit dem Titel »Das historische Venedig« in den Händen. Sein Gesicht wirkte trotz der Brille und des Dreitagebartes nichtssagend und ausdruckslos. Er war einer dieser Menschen, die man sofort wieder vergaß, sobald sie den Raum verlassen hatten. Er erinnerte Francesca in unangenehmer Weise an ihren Geschichtslehrer Herrn Hartmann. Die Begeisterung, die während des Unterrichts in Herrn Hartmanns Augen funkelte, wirkte sich leider in keinster Weise auf seinen geschichtlichen Vortrag aus. Seine monotone Sprechweise, die an das gleichbleibende Rattern eines Zuges erinnerte, führte schon nach zehn Minuten zu epidemieartigen Gähnanfällen, starren Blicken und einer immer schlaffer werdenden Sitzhaltung. Francesca und ihre Freundin Monika waren sich sicher, dass Herr Hartmann die geheimnisvolle Gabe besaß, seine Schüler in Untote zuverwandeln, um ungestört seinen Unterricht halten zu können.
    Der Mann in Francescas Abteil schien diese Gabe allerdings auch zu besitzen, denn sein Sohn, der Francesca schräg gegenüber saß, hatte seinen Mund gerade zu einem herzhaften Gähnen aufgerissen. Er war etwa halb so alt wie Francesca und ging wahrscheinlich in die erste oder zweite Klasse der Grundschule. Seine blonden Haare standen wirr vom Kopf ab und von seinen großen braunen Augen war durch die herabgesunkenen Lider kaum noch etwas zu sehen.
    »Frederick!«, ermahnte ihn sein Vater in strengem Ton. »Langweile ich dich etwa?«
    »Nein, natürlich nicht!«, antwortete seine Frau anstelle ihres Sohnes. Sie war etwas rundlich um die Hüften und in ihren Augen lag ein gutmütiges Funkeln. »Wir finden deinen Vortrag sehr interessant.«
    Ihr Mann warf einen prüfenden Blick in die Runde, ehe er fortfuhr. »Gut, wo war ich stehen geblieben?« Er blätterte hektisch in seinem Buch herum. »Ach ja: Die Venezianer entwickelten eine interessante Technik, um die Inselufer zu
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