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Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Titel: Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers
Autoren: Christian Ritter
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fehlinterpretiert werden und zu eigenen Dummheiten führen. Wenn man sich auf alle anderen genauso verlassen könnte wie auf sich selbst, wäre das Leben im Allgemeinen sicherer. Das ist wie mit diesem Orangensaft, den ich gerade trinke. »Frisch gepresst« steht auf dem Schild, er schmeckt aber eher wie Capri-Sonne, und zwar nicht wie der Inhalt, sondern wie die Verpackung.
    Wir stehen an einem Stehtisch im Frankfurter Bahnhof, an der Kopfseite der Gleise, auf Höhe von Gleis 3, und warten. Die Übergabe ist um 14 Uhr. Wenn alles klar geht, steigt Herr Jauch um 14.13 Uhr in den Zug nach Berlin. Wir sind vorbereitet. Herr Jauch trägt Herrn Müllers Anklebeschnurrbart und hat die Kapuze noch über seine Mütze gezogen, dafür hat er auf die Sonnenbrille verzichtet. Herr Müller trägt das für die Übergabe vereinbarte Erkennungszeichen, mein Spongebob-T-Shirt, unter seiner Jacke. Katja haben wir im Auto in der Tiefgarage gelassen, sie wollte noch ein bisschen schlafen und hat sich schon verabschiedet. Um uns herum ist einiges Gewusel, der übliche Freitagsbetrieb. Freitage und Sonntage sind die schlimmsten Zugfahrtage, weiß man ja. Auch die anstrengendsten Tage, wenn man gemütlich in einem Bahnhof herumspazieren und sich die Kioske und Essenstände betrachten will. Für eine Lösegeldübergabe also ideal.
    »Ein bisschen nervös bin ich schon«, sagt Herr Müller. »Hast du ’ne Zigarette, Paul?«
    Ich klopfe mich ab und finde tatsächlich eine Schachtel. »Ich muss ein bisschen vorsichtig mit dem Bart sein, aber ich würde auch eine nehmen«, sagt Herr Jauch. In Dreieinigkeit wechseln wir ins vordere gelbe Raucherquadrat auf die Plattform zwischen den Gleisen 2 und 3 und stecken uns eine an.
    Ich sehe von Herrn Müller und Herrn Jauch zu dem vereinbarten Treffpunkt zwei Bahnsteige weiter – die Aussicht wird nicht durch eintreffende oder abfahrende Züge versperrt –, und wieder zurück zu Herrn Müller und Herrn Jauch. Ich seufze. Dass es so schnell zu Ende gehen muss.
    »Nur keine Wehmut«, ermahnt mich Herr Jauch. »Wir werden uns noch oft genug sehen. Sie mich zumindest. Und immerhin haben wir noch ein paar Minuten. Ach, da fällt mir was ein.«
    Er drückt seine Zigarette aus, obwohl er sie erst zu einem Viertel gepafft hat, und streckt Herrn Müller seine Hand entgegen. Der wirkt etwas überfordert, ergreift sie dann aber und wartet, was passiert. Herr Jauch schüttelt und sagt: »Heidemar, ich bin Günther.«
    Herr Müller sagt erst mal gar nichts. Dann werden seine Augen ein bisschen feucht.
    »Heidemar, Günther«, sagt er etwas erstickt.
    »Paul«, sagt Herr Jauch, lässt los und wendet sich mir zu. Wir geben uns die Hand.
    »Günther«, sagt Günther.
    »Paul«, sage ich, überflüssigerweise.
    »Eine ganz tolle Geste von Ihnen … dir!«, schiebe ich nach.
    »Zwischen uns bleibt es aber bei Herr Müller«, sagt Herr Müller eilig zu mir. Ich nicke.
    »Es hat mich sehr gefreut, dass Sie mich so herzlich bei sich aufgenommen haben«, holt Günther zu einer Dankesrede aus, »ich habe mich sehr wohlgefühlt und komme gerne wieder … Nur vielleicht nicht allzu bald. Sagen Sie auch Katja noch einmal die liebsten Grüße. Und vor allem Frau Rottenbauer, sie ist eine faszinierende Person. Jetzt ist es aber«, er späht auf die Bahnhofsuhr über uns, »an der Zeit. Gehen Sie nach drüben, Herr … Heidemar! Wir sehen uns gleich wieder. Du.«
    Herr Jauch, nein, Günther scheint vom plötzlichen Anredewechsel ziemlich verwirrt. Kann ich nachvollziehen.
    »Wird gemacht«, sagt Herr Müller und entfernt sich. Nach ein paar Schritten öffnet er die Jacke und wirft sie sich über die Schulter. Mein T-Shirt ist ihm ein klein bisschen eng. Aber er fällt nicht weiter negativ auf. Es laufen erstaunlich viele als Comicfiguren verkleidete Jugendliche umher. Ich weiß ja nicht, ob das immer so ist, ich lungere nur selten am Bahnhof herum. Diese jungen Leute bewegen sich aber kaum, sondern verharren häufig und fotografieren sich gegenseitig, also können wir Herrn Müller gut folgen. Als er zwischen den Gleisen 6 und 7 richtig einbiegt und auf den Übergabeort zusteuert, fährt ein Regionalzug auf Gleis 5 ein und versperrt uns die Sicht. Auf der uns zugewandten Zugseite lächelt strahlend ein Skilehrer unter einem Schriftzug, der für Urlaub in Tirol wirbt: Jeden Tag Tirol.
    »Immer wenn es spannend wird, kommt Werbung«, sagt Günther.

Vierter Teil

Freitag, 19.00
    Wo wir sind, spielt keine Rolle. Wir sitzen in
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