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Die Sanddornkönigin

Die Sanddornkönigin

Titel: Die Sanddornkönigin
Autoren: Sandra Lüpkes
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Pillen nehmen, sonst würde sie gleich hilflos in ihrem Atelier liegen. In die Wohnung konnte sie unmöglich kommen; wenn sie keine Medikamente mehr in ihrer Schublade unter der Nähmaschine fand, dann konnte sie es nur noch bis zum Telefon schaffen. Der Mund war trocken wie Watte, von rechts und von links schoben sich Nebelwände in ihren Blick, bis sie nur noch geradeaus sehen konnte, wie ein Pferd mit Scheuklappen. Langsam, unendlich langsam schob sie sich an den Rand des Tisches, dann ließ sie sich über die Kante gleiten. Den Boden unter den Sohlen spürte sie kaum noch, er schien ihr morastig zu sein, die Füße versanken bis zu den Knöcheln darin, dann ging sie in die Knie. Auf allen vieren schob sie sich Zentimeter für Zentimeter vorwärts, bis sie das Stuhlbein zu fassen bekam. Die Schublade schien nahezu unerreichbar zu sein, so weit oben, wie sollte sie jemals dort hinaufkommen und sie öffnen?
    Sie ließ den Kopf auf den Boden sinken, Schweiß und Tränen machten das Linoleum nass. So verharrte sie einen Augenblick. Nun war Wencke sicher bereits in der Küche, sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon fort war. Ein paar Minuten, eine halbe Stunde oder schon länger? Sie würde warten, bis Verstärkung eintraf, sie würde nicht so unvernünftig sein und Fokke allein mit dem ungeheuerlichen Verdacht gegenübertreten. Sie musste doch wissen, dass Fokke unberechenbar sein konnte, wenn ihn jemand daran hinderte, sein Ziel zu erreichen. Hilke fühlte einen tiefen Schmerz in sich, es war ein Reißen tief im Inneren, das ihr für einen kurzen Augenblick den Atem nahm und wie ein Stromschlag durch den linken Arm schlug. In diesem Moment schlossen sich vielleicht schon die Handschellen um die sanften Handgelenke ihres Sohnes, sie wusste, es war das Einzige, was für Fokke noch übrig zu blieben schien. Man musste die Welt vor ihm schützen, vor seinem Perfektionismus, der gleichzeitig so viel zerstörerische Energie freisetzte, man musste Fokke vor sich selbst retten. Hilke sah vor ihren Augen eine Lache aus Speichel, die ihr aus dem Mundwinkel herausgelaufen war. Fokke war kein Ungeheuer, er war so empfindsam, so verletzlich, er war ein armes Kind, das nur eines wollte: Anerkennung. Anerkennung, die sie ihm als Mutter versagt hatte. Sie selbst war die Schuldige, sie hatte Fokke zu diesem ausgehungerten Wesen werden lassen, das um sich schlug, um sein eigenes Leben zu retten.
    Spitze Pfeile durchbohrten ihren Schädel, als sie sich mühsam aufrichtete. Ein Blick auf die verkrampften Finger, sie sich am hölzernen Stuhl emporkämpften, ließ sie nicht glauben, dass es ihre eigenen Hände waren. Sie befahl diesen Klauen, den Griff am Nähtisch zu umfassen, doch die Bewegungen waren fahrig, erst im vierten Versuch bekam sie den Knauf zu packen und zog mit hilfloser Restkraft die Schublade auf. Die Augen suchten verzweifelt in dem dunklen Kasten, die Fingerspitzen griffen ins Leere. Es war nichts darin. Hilke heulte auf. Der schwarze Tunnel zog sich enger, dann sank sie schlaff in sich zusammen und blieb regungslos auf dem Boden liegen wie ein Vogel, der gegen eine Fensterscheibe geflogen war.
    Nur zehn Zentimeter über der offenen Schublade stand das Telefon unberührt und stumm.
     
     
    Wencke hasste die Kälte. Sie fühlte sich wie in einem Gladiatorenkäfig, nur dass das Ungetüm, gegen das sie kämpfen musste, nicht aus Fleisch und Blut, sondern eine Temperatur von ungefähr minus achtzehn Grad war. Doch die Wunden, die ihr der Gegner zufügte, waren nicht weniger schmerzhaft. Wenckes Fingerspitzen schienen von Tausenden kleiner Nadeln durchbohrt, nachdem sie die ersten Minuten in ihrem frostigen Gefängnis vergeblich versucht hatte, den Türgriff zu bewegen. Es hatte keinen Sinn: Das sichere Wissen, im nächsten Augenblick von Meint oder Sanders aus der fatalen Lage befreit zu werden, sank wie ihre eigene Körpertemperatur. Irgendetwas musste passiert sein, irgendetwas hatte Hilke davon abgehalten, die Kollegen einzuschalten, doch Wencke wusste, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was es gewesen sein könnte, führte zu nichts, sie musste handeln.
    »Wencke, Wencke, versuch dich zu erinnern, was dir der Typ von der Kältetechnikfirma erzählt hat, scheiße, konzentriere deine wenigen noch nicht schockgefrosteten grauen Zellen und denk nach…« Das Selbstgespräch war leise und nicht so eindringlich, wie es nötig gewesen wäre. Die Kälte drang durch ihre Lippen und schien die Zähne mit eisigem Griff zu
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