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Die Runenmeisterin

Die Runenmeisterin

Titel: Die Runenmeisterin
Autoren: Claudia Groß
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vorsichtig die morschen Stufen hoch. Als sie endeten, schien ein diffuses Licht durch einen Haufen von Zweigen und Ästen, die sorgsam über ein Loch gelegt waren, aus dem er nun, die Äste zur Seite werfend, nach oben gelangte.
    Es dämmerte bereits. Vögel sangen, ein riesiger Stein türmte sich vor ihm auf. Er sah sich um und erkannte, daß ihn der Gang zum alten Kultplatz geführt hatte. Die Zeit drängte. Er steckte die Fackel in die Erde und rannte zur Hütte des Jungen. Dort trat er die verriegelte Tür ein, riß den Jungen von seinem Lager hoch und trug ihm auf, nach Lüneburg zu reiten, um Hilfe zu holen. Der Junge starrte ihn an.
    »Ich brauche mindestens zwei Stunden, bis ich da bin«, flüsterte er und ging sein Pferd satteln, »und dann dauert es noch einmal zwei Stunden, bis Hilfe kommt. Macht zusammen vier Stunden, Herr. Werdet Ihr Euch so lange halten?«
    Cai Tuam wußte es nicht. Sie waren zuwenig Soldaten, die andern waren fast doppelt so viele wie sie. Und eine Festung zu halten, die von brennendem Stroh, von Rammböcken und von Feuerbällen attackiert wurde, brauchte mehr als nur eine Handvoll Männer.
    »Du reitest ohne Pause«, sagte er zu dem Jungen, »hast du verstanden? Hier, ich geb dir Geld, wenn das Pferd lahm wird, sieh zu, daß du in einem Gasthaus ein neues bekommst.«
    Er schüttete dem Jungen ein paar Münzen in die Hand und nickte. Der Junge gab dem Pferd die Sporen und verschwand.
    Der Ire ging zum Platz des alten Steines zurück. Hier konnten sie auch nicht bleiben, die Frauen, Maria und Gundeline, mitten im Wald unter freiem Himmel, da würden umherstreifende Sachsen sie sofort finden.
    Ihm fiel die Hütte der alten Runenmeisterin ein. Sie war nicht weit von hier, lag ein wenig versteckter in undurchdringlichem Unterholz, aber er mußte sich beeilen. Er lief quer durch das Gehölz, bis die Hütte auftauchte. Der Eisenhut blühte noch im Garten, und das dunkle Blau seiner Blüten stach leuchtend ab gegen das Zwielicht der Morgenröte. Cai Tuam öffnete die Tür. Der Geruch kalter Asche schlug ihm entgegen und der Duft der getrockneten Pfefferminze. Sein Blick fiel auf ein Lager aus Fellen und einer roten Pferdedecke. Seine Pferdedecke. Rosalie ging es ihm durch den Kopf. Rosalie mußte hiergewesen sein, denn wie sonst kam diese Decke hierher? Er schlug die Tür wieder zu und rannte zurück. Aber immer wieder sah er sich um. Rosalie war hier. Natürlich, es war vielleicht der einzige Platz auf Erden, wohin sie hatte gehen können.
    Als sie aus dem Wald trat, hatte er sich schon wieder abgewandt. Sie ging ihm nach, sah ihn in dem Stollen verschwinden, und als seine Schritte verklungen waren, nahm sie die Äste und die Zweige und bedeckte das Loch wieder damit. Dann stand sie auf und sah sich ratlos um. Würde sie hier bleiben können, ohne von den Sachsen entdeckt zu werden? Oder würde sie herunter müssen, herunter in dieses schwarze Loch, eine Mörderin, die keine andere Möglichkeit hatte, als sich entweder ihren Richtern zu stellen oder von den Sachsen gefunden zu werden. Aber welches war das schlimmere Übel? Sie drehte sich um und ging zur Hütte zurück.
    Die Sachsen hatten wieder begonnen, gegen das Tor anzustürmen. Ihre Schilde als Deckung über dem Kopf, warfen sie Strohbüschel gegen das Tor und beschossen sie mit brennenden Pfeilen. Als der Ire zurückkam, stand das Tor in hellen Flammen. Die Sachsen brachen durch die Mauer und drangen in die Ställe ein, holten die panischen Pferde und trieben sie durch das Feuer aufs offene Feld hinaus. Die Franken hatten jetzt nur noch den Palas mit dem Turm, auf den sie sich zurückziehen konnten, und die Zeit rann dahin. Der Junge konnte noch nicht einmal in Lüneburg angekommen sein.
    Im Keller saßen Gundeline, Maria, die alten Frauen und die Kinder. Und Pater Clemens, der den Kopf zwischen die Knie gesteckt hatte und leise betete. »Selig der Mann, der nicht im Gottlosen wandelt, sich nicht auf den Pfad der Sünder stellt, noch im Kreise der Lästerer sitzt, vielmehr am Gesetz des Herren seine Freude hat und sein Gesetz beachtet bei Tag und bei Nacht.«
    Er hatte immer das Gesetz beachtet, aber er war ein schwacher Mensch, und er hatte Angst. Schreckliche Angst. Von draußen war das Gebrüll der Sachsen zu hören, die jetzt auch das Vieh aus den Ställen trieben, und das Krachen der brennenden Balken, wenn sie herunterbrachen.
    »Betet für uns, Pater«, sagte Gundeline.
    »Denn der Herr weiß um den Weg der Gerechten, doch der
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