Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen
Autoren: Minelli Michele
Vom Netzwerk:
ahnte es besser. Und dass, noch bevor er auch nur ein Wort an sie gerichtet hatte oder sie an ihn. Eher ein Kind, das am Rande seiner auf Reichtum und Äußerlichkeiten versessenen Familie still und eigen groß geworden war. Ihre gräfliche Verwandtschaft war wie ein altes, nobles Seidentuch, an den Rändern ausgefranst, und keiner, dem das wirklich wichtig war, keiner, der da hinschaute, solange das Tuch nur in seiner Mitte fest war und berückend glänzte. Eine dieser Fransen, eben sie, reizte ihn, sie, die so etwas wie Persönlichkeit entwickelt hatte in all dem verwirrenden Banalen, fast wie ein intelligenter Mann, dachte František hin und wieder, grad ebenso interessiert und informiert, das war unbestritten; Alžbeta wusste Bescheid.
    Es war ja auch sie, die seine Hand in die ihre genommen hatte, die ihn dazu gezwungen hatte, vor ihr still zu stehen, bis ihm beinahe die Knie wegsackten, und die ihn aufgefordert hatte, mit ihr ausreiten zu gehen. Nur zu zweit.
    Aber das ging dann natürlich doch nicht, drei Anstandsdamen waren damals mitgekommen, und die Gespräche waren nicht über die modernste Form der Wickler, die neuesten Erkenntnisse über das Kreolieren oder den Preis der einzelnen Haarlieferungen hinausgegangen. Besonders das amüsierte die Damen, wie viel so ein Haar kostete, und František, der kaum rechnen konnte, log ihnen die verrücktesten Additionen und Multiplikationen vor, so dass sie allesamt ihre lachend geöffneten Münder hinter den behandschuhten Händen versteckten und aufgestachelt alberten. Alle, außer der einen, die ihre breiten, milchigen Zähne nie versteckte, wenn sie lachte, und sie lachte laut und sicher, grad so wie ein Mann.
    Nur ihre Blicke waren stiller, still. So, als ob sich hinter ihrer hohen Stirn, die in der gesamten Familie Csöke vorherrschte, schwerwiegende Gedanken wälzten, von denen die Außenwelt ja keine Ahnung hatte.
    Was hätte er damals als junger Posticheur darum gegeben, als ihre Plaudereien ihren zaghaften und etwas holperigen Anfang nahmen, wenn er diese zarten Linien, die ungekannte Gedanken in ihre unverwechselbare Alžbeta-Csöke-Stirn eingeflochten hatten, einzeln mit den Fingern hätte nachfahren können, um sie danach im Holzkopfmodell nachzuahmen und eine nach der anderen gewissenhaft einzukerben. Aber er hatte sich mit einer buchhalterischen Wachsamkeit damit begnügt, festzustellen, dass diese Linien mit jedem Jahr mehr wurden, und auch wenn sie für alle anderen kaum zu bemerken waren, er kannte sie. Als Posticheur kam er den Damen näher als so mancher. Und Alžbeta hatte ihn gewähren lassen, blieb ernst oder zog ihn auf, spielte mit ihm, kokettierte, sah ihn lange in dieser stillen nachsichtigen Art an, und dann lachte sie wie ein Mann, der einfach nur gütig wartet.
    »Wo bist du, meine Liebe, da ist ja immer so viel Kleid an dir!«, raunte er ihr in den Nacken, die Hände suchend ihren gewölbten Körper auf und ab fahrend. Alžbeta Csöke von Kassa hatte sich um Schnürbrüste, Korsette, versteifte Mieder und Konsorten zumeist foutiert, war in ihren eigenen Gemächern gern schlampig angezogen, nur ein oder zwei Hemden übergestreift, es war ja früh am Morgen, und wer konnte da schon etwas dagegen einzuwenden haben? Aber heute hatte sie ihn in voller Montur empfangen, als er in ihr Zimmer trat, die Postiche-Utensilien unter den Arm geklemmt, ein Lächeln im Gesicht, das nichts Gutes verhieß. Und dann platzte er ja auch gleich damit heraus, dass er irgendjemanden irgendetwas über sie beide hatte sagen hören. Und verdarb ihr damit die Morgenfreude, die große Überraschung, die sie ängstlich und freudvoll zugleich für ihn parat hatte. »Weshalb steckt man Frauen aber auch in Kleider, die sie selber gar nicht an- und ausziehen können?«
    »Damit du mir eben hilfst, František.«
    Und für einen Moment sah er pure, nackte, zerbrechliche Hoffnung über ihre Iris flattern.
    František war nicht der Mann, der nachfragte, wenn er etwas nicht verstand. Er war viel lieber der Beobachtende auf sicherem Posten. Da Alžbeta nun aber nichts nachrückte, verließ er sich auf seine Finger, die noch immer Häkchen von Öschen trennten, eins ums andere, bis seine Hand ihren Rücken berührte. Alžbeta lehnte sich vor und lehnte sich an ihn. Sie ließ ihm die Schultern entgegensacken, damit hatte er es leichter, sie aus all den Stoffen und Nähten und Spangen zu schälen, die diesen Menschen heute so eng zusammenhielten wie ein Gerüst, nach dessen Abbau
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher