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Die Romantherapie: 253 Bücher für ein besseres Leben (German Edition)

Die Romantherapie: 253 Bücher für ein besseres Leben (German Edition)

Titel: Die Romantherapie: 253 Bücher für ein besseres Leben (German Edition)
Autoren: Ella Berthoud
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langen Moment Einzige –, was die Leserin an ihr wahrnahm, waren die Augen. Auf ihren Lidern, bis hoch zu den Brauen, schillerte es türkis, pink, grün und golden, wie bei einem irisierenden Fisch. Ein Fisch, der sich freute, sie zu sehen – und sie auf die verrückte Art und Weise anlächelte, auf die man seinen siamesischen Zwilling anlächelt, von dem man tragischerweise bei der Geburt getrennt wurde, der aber nun, achtzehn Jahre später, unerwartet im Zimmer nebenan wohnt.
    Die Leserin entschied auf der Stelle, die andere gern zu haben.
    »Ich habe dich wohl mitten in der Feenkönigin gestört?«, fragte die andere Leserin und reichte ihr einen Becher schwarzen Kaffees (von nun an trank sie ihn immer schwarz). »Hast du denn das Gefühl, dass es dir an Tugend mangelt? – Oh!«
    Ihr Blick, der unterdessen über die Buchrücken im Regal ge 410 glitten war, ruhte auf Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht, das strategisch am Rand platziert war (neben der Unerträglichen Leichtigkeit des Seins, der Glasglocke und dem Geisterhaus – Sie verstehen …), so dass es einem gleich ins Auge fiel, wenn man zur Tür hereinkam. Die andere Leserin stellte ihren Becher ab, nahm den Reisenden aus dem Regal und blätterte sorgsam darin. »›Ich bin gezwungen, die Lektüre immer genau im spannendsten Augenblick abzubrechen. Ich kann es gar nicht erwarten, sie fortzusetzen, doch wenn ich dann das begonnene Buch wieder aufzuschlagen meine, habe ich etwas ganz anderes vor mir‹ …«
    Sie brach ab und blickte die Leserin an, atemlos. Die konnte nur feierlich nicken, war dies doch der erste wirklich wichtige Moment in ihrem Leben, den sie mit jemandem teilte, mit dem sie nicht verwandt war. Sie streckte die Hand aus und die andere Leserin gab ihr das Buch, und dann blätterte sie, bis sie ihre Lieblingsstelle gefunden hatte, die Stelle, die sämtliche Arten von Büchern, die man in einem Buchladen findet, beschreibt, »›die Infanterie der Bücher, Die Du Bestimmt Gern Lesen Würdest Wenn Du Mehrere Leben Hättest Aber Leider Sind Deine Tage Eben Was Sie Sind‹«, dann die »›Bücher, Die Alle Bereits Gelesen Haben So Daß Es Beinahe Ist Als Ob Du Sie Auch Schon Gelesen Hättest‹«. Und die andere Leserin rief lachend »Ja, genau!«, und die Leserin selbst begann auch zu lachen, und die andere Leserin griff das Buch wieder und blätterte darin, begierig, die Stelle zu finden, nach der sie suchte, die Stelle, in der beschrieben wird, wie wir ein Buch umkreisen, bis wir es schließlich lesen, wie wir den Text auf der Rückseite lesen, mit der Hand über das Cover fahren, wie beim Vorspiel vor dem Sex, uns das Eigentliche schon vorstellen – den Akt des Lesens selbst. Als sie die Stelle laut vorlas, platzte die andere Leserin erneut mit dem Lachen heraus, peinlich berührt von der sexuellen Anspielung (so lange kannten die beiden sich schließlich noch nicht), doch die Leserin lachte selbst auch, und sie schnappte sich wieder das Buch, weil sie die Stelle über den Buchladen noch nicht bis zum Ende vorgelesen hatte, 411 die Stelle, die die andere (da war sie sich sicher) genau so lieben würde wie sie selbst, die Stelle, die beschreibt, wie traurig einen all diejenigen Bücher, die man nicht gekauft hat, anschauen, mit einem Hundeblick, als habe man sie im Tierheim zurückgelassen. Doch sie griff etwas zu entschlosen nach dem Buch, und für einen Moment zogen beide daran, so dass beinahe die Bindung brach, und beide erschraken zugleich über die merkwürdige Ironie, das Buch könne in zwei Hälften geteilt werden, kurz vor dem Höhepunkt der Geschichte, oder kurz danach, ebenso, wie die Bücher in diesem Buch nicht als Ganzes gelesen werden können …
    Ihre Blicke trafen sich über dem gequälten Buch.
    »Genau. ›Man liest für sich allein, auch wenn man zu zweit ist‹«, sagte die andere Leserin.
    »Aber ›was ist natürlicher, als daß zwischen Leser und Leserin durch das Buch ein Bündnis entsteht, eine Komplizenschaft, eine Beziehung?‹«, gab die Leserin zurück.
    Die andere Leserin nickte. Sie wollte gerade das Buch zurückgeben, als ihr etwas einfiel. »Sind denn Bücher ›eine Schutzmauer […], die du vor dir errichtest, um die Außenwelt fernzuhalten‹, oder ›ein Traum, in den du eintauchst wie eine Droge‹, oder womöglich ›Brücken […], die du nach draußen schlägst, hinaus in die Welt, die dich so interessiert, daß du ihre Dimensionen mit Hilfe der Bücher erweitern und
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