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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich
Autoren: Claudio Naranjo
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zum Licht!« Das war keineswegs ein Spiel
    mit Worten oder Einfällen, sondern Ausdruck eines Einstellungswandels in geschlechtlichen Dingen: In dem Maße sie sich nach der Sonne ausrichteten, wurden sie rein und heilig; Ursprung und letztendliches Ziel des Geschlechtstriebs war Licht.
    Also hatte Sex selbst Lichtcharakter.
    Mir erscheint diese Sitzung wegen der in ihr zu beobachtenden
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    graduellen Umwandlung der psychischen Energie bei gleichzeitiger Öffnung des röhrenförmigen Kanals aufschlußreich. Zu Anfang war der Patient tatsächlich eine verschlossene Röhre
    und wünschte sogar, so zu sein. Einmal erblickte er eine Röhre,
    die sich bis ins Endlose dahinstreckte, was ihn zu Unzufrieden-
    heits- und Unmutbekundungen veranlaßte; sie habe weder Anfang noch Ende. »Ein Rohr, ein Rohr, ein Rohr, Rohr, Rohr...
    und kein Ende!« Und dann kam die Bemerkung, ein Rohrohne
    Ende sei nichts. Ich halte diese Zurückweisung der »Jenseitigkeit« der Röhre insofern für bemerkenswert, als gerade diese Endlosigkeit in Verbindung mit dem Offensein der Röhre für
    die visionären Erfahrungen unter Ibogain charakteristisch ist.
    Doch dieses Offensein ist für das unnachgiebige kleine Ego der
    Tod; es ist »nichts«. Infolgedessen mußte der anmaßende Feldwebel sich weiterhin den Kopf an der Decke wundstoßen. Das Bild verrät, daß das Verschlossene der Röhre und die starre
    Abwehrhaltung des Mannes einander entsprechen. Um die
    Röhre zu öffnen, mußte er sich den Schädel einrennen, was
    gleichbedeutend mit seinem Tod gewesen wäre. Und tatsächlich, dieser Mann verschwand zu guter Letzt.
    Was mithin als erstes die Röhre passieren wollte, war die Aufgeblasenheit des Gorilla-Typs, und gerade sie konnte nicht durch die Röhre. Denn die Röhre vermochte keine Energieform aufzunehmen, die letzten Endes auf ein Sondersein abzielte. Indem er sich mit diesem Scheinbild seiner selbst identifizierte, bremste der Patient den Strom seines Lebens. Doch was war das für ein Leben, das zu strömen verlangte? Mehrmals
    sah er Röhren aus dem Untergrund auftauchen oder aus einem
    Erdgeschoß in die Höhe steigen. Einmal floß Wasser daraus -
    nicht strömend, nur sickernd. »Jetzt, jetzt, jetzt!« rief er ganz
    aufgeregt, und dann »Au, Au, Au!« Das Bild verwandelte sich
    in eine Kreuzigungsszene, dann konnte er sich an nichts mehr
    erinnern. Nicht nur der »Untergrund«, auch der Kontext der
    Bilder weisen auf das »dunkle« Triebleben hin, das nach außen
    drängt; der Rest der Vision handelte von sumpfigen Teichen,
    Krokodilen und Negern. Dann trat eine Transformation ein:
    Animalisches Leben und Dunkel wurden zu Licht, denn die
    Sonne spendet Wärme gleich Energie. In der Tat, sie ist die
    Quelle aller Energie und damit allen Lebens. Sie ist buchstäblich der Vater der Pflanzen, Tiere und Menschen, und der Patient brauchte nur in seine Kindheit zurückzukehren, um
    dessen inne zu werden.
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    Dieses Bild diente lediglich der Ergänzung dessen, was wir
    bereits einer Reihe von anderen Fällen entnahmen. Betrachten
    wir zum Beispiel Adeles Erfahrung als Kind in ihrem Bettchen,
    als sie den schräg einfallenden Lichtstrahl erblickte (»Das war
    Gott«) oder die Erfahrung der anderen Patientin, die nach
    jeder Konfrontation mit ihren animalischen Kräften eine lichtvolle Erfahrung durchlebte, oder den Fall Jakob, dem Fäden-Würmer-Tiere aus dem Mund quollen, um, in einen Vogel
    verwandelt, der Sonne entgegen zu fliegen - stets dürfte es sich
    um den gleichen, in Tiergestalt (respektive im gierigen Säugling) »verkörperten« Trieb gehandelt haben, der jeweils aus einem anderen Blickpunkt betrachtet alsein Dem-Licht-entgegen-Fliegen oder als Das-Licht-selbst erlebt wurde. Und die
    Veränderung des Blickpunkts besteht gerade in jenem »Eingehen in die Röhre«: darin, ins Leben »einzutreten« und es
    »innen« zu leben anstatt außen lediglich seine Manifestationen
    zu registrieren; ihm so nahe wie möglich zu kommen, sich als
    seine Mittelachse zu spüren, als eins mit seinem innersten Kern;
    lieber Leben zu werden als es zu besitzen ; einen Zustand zu
    erreichen, in dem Subjekt und Objekt, der Denkende und seine
    Gedanken, der Fühlende und seine Gefühle, Leib und Seele ein
    und dasselbe sind. Dieser Prozeß des In-die-Röhre-Schlüpfens
    ist nichts anderes als das Eingehen in die eigene Erfahrung, das
    Zweck einer Vielzahl von traditionellen Meditationspraktiken
    ist.
    »Also sprach der Erhabene zu seinen
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