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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich
Autoren: Claudio Naranjo
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hatte, zärtlich zu sein. Und
    ebenso wurde mir klar, daß es nicht nur wichtig ist, geliebt zu
    werden, sondern auch wiederlieben zu dürfen. Der Arzt
    forderte mich daraufhin auf, sie in die Arme zu nehmen und
    zu herzen. Ich nahm sie in die Arme und herzte sie und fühlte
    mich wohler. Doch war ich immer noch traurig, und ich fragte
    ihn, was ich gegen meine Schuldgefühle tun solle. Er antwortete: Akzeptieren Sie sie.‹ Ich fühlte mich noch immer elend.
    Ich war allein in diesem Zimmer. Ich fühlte mich innerlich
    elend, elend, elend. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich ein
    großes schwarzes Loch in mir. Das erzählte ich ihm nicht,
    weil ich es für schlimm hielt. Während ich immer noch im
    Kinderbett saß, spürte ich Licht, das in einem deutlich sich
    abzeichnenden Strahl durch das Fenster ins Zimmer und auf
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    den Fußboden fiel. Das Licht wärmte mich und erfüllte mich
    mit dem Gefühl der Einsamkeit. Ich spielte mit dem Licht. Es
    war Gott. Ich liebte das Licht und die grünen Pflanzen, die
    ich draußen vor dem Fenster sah. Der Tag war so strahlend
    und warm, und Mutter so kalt und mißgestimmt. Ein oder das
    andere Mal fand ich im Gespräch mit meiner Mutter meine
    Stimme wieder. Sie hörte sich traurig an, wie die Stimme
    eines kleinen Mädchens, das um Liebe bat. Die einzige Linderung für mein Leid war das Licht.«
    Auch hier können wir beobachten, wie sich die Qualität der
    Erfahrung steigert, je mehr die Patientin ihren wahren Gefühlen nachzugeben vermag: Schmerz und Liebesbedürfnis, die sie Sich-Selbst (ihre eigene Stimme) finden lassen, wie auch die
    Tröstung durch die Helle des Lichts. Das Bild des strahlenförmigen Lichts und das damit verbundene religiöse Gefühl sind anderen visionären Erfahrungen unter Ibogain so ähnlich, daß
    man sie kaum als echte Erinnerung betrachten kann. Dennoch
    läßt sich nicht ganz von der Hand weisen, daß das Erlebnis des
    Lichts im Kind schon Entzücken hervorgerufen haben mag und
    insofern jener Urerfahrung entspricht, die der Vorstellung von
    Gott als Lichtspender zugrunde liegt.
    Trotz des positiven Elements in obigem Zitat läßt sich ihm
    entnehmen, daß das Problem der Patientin noch ungelöst blieb.
    Sie wurde noch immer von ihrer Ambivalenz hin- und hergerissen, weil sie nicht fähig war, von ganzem Herzen zu lieben.
    Doch wie im Fall (des Patienten) Jakob, legten diese wenigen
    Minuten der Analyse das Fundament für die in der folgenden
    Stunde sich ergebende Synthese, deren Ergebnis in der merklichsten der zahlreichen Veränderungen bestand, die sie in den folgenden Monaten melden konnte. Dies läßt sich an Hand
    einer Tagebucheintragung würdigen, die zwei Wochen später
    verfaßt wurde:
    »Ich pflegte andere Leute zu fragen, ob sie jemals Ähnliches
    empfunden hatten wie ich. Ich schämte mich meiner Gefühle. Ich fragte auch meine Mutter, ob ich vielleicht eine Mißgeburt sei! ›Liebt mich denn keiner?« sagte ich. Warum
    lieben sie mich nicht? Ich liebte mich ja selbst nicht. Wo war
    Adele? Adele befand sich im Innern von Adele, doch sie
    schlief. Jetzt ist sie am Erwachen, und es ist an der Zeit. Ich
    bin eine Person. Ich bin wie alle anderen. Ich habe das Leben
    anderer gelebt, voller Angst vor dem Versuch, mein eigenes
    zu leben. Meine Mutter hat mein Leben bis heute zerstört.
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    Sie hat sich nie selbst gesehen. Deswegen konnte sie vielleicht mich nicht sehen. Sie lebte anderer Leben. Neid. Gier und Schuldgefühle. Sie fühlt sich gepeinigt. Ich selbst fühle
    mich auch gepeinigt, kann aber etwas dagegen tun. Ich muß
    mich üben, ich muß in der Welt leben, muß von meinen
    Energien Gebrauch machen. Nur in gewissen Momenten
    konnte ich mir über mich selbst klar werden und nur mit Hilfe
    anderer Menschen. Ich muß einfach in das Leben anderer
    blicken und anderer Leben leben. Dabei führe ich ein eigenes
    Leben, ein gutes. Ich glaube, ich bin im Begriff, mich von
    meinen Eltern zu lösen. Ich bin nicht meine Mutter, Gott sei
    Dank. Ich muß anderer Leben akzeptieren. Wie kann ich für
    andere Verantwortung übernehmen, wenn ich für mich
    selbst keine habe? Ich bin ich. Ich muß ich sein. Ich muß von
    nun an ich sein - was immer auch geschehen mag. Ich trage
    jetzt die Verantwortung für mich.«
    Das Gefühl der Ganzheit, der Befreiung, setzte bei der Patientin in einem Moment ein, da sie sich an der Innenseite einer vertikalen Röhre emporklettern sah. Sie wußte, diese Röhre
    versinnbildlichte ihr Leben, die Röhre
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