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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich
Autoren: Claudio Naranjo
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Gorilla-ähnliche Anthropoide. Der Gorilla, seine
    erste Vision überhaupt, war zuerst nichts als ein Tier. Später
    erkannte der Patient in der großspurigen Grandezza des Tieres
    sein
    eigenes
    Auftreten
    wieder.
    Und
    je
    weiter
    dieser
    Erkenntnisprozeß fortschritt, desto mehr verwandelte sich das
    Bild in ein menschliches: in einen gigantischen, affenartigen
    Mann, den er »den Feldwebel« nannte. Gegen Ende der vierten
    Stunde merkte ich, daß die Wirkung der Droge nur noch etwa
    zwei Stunden Vorhalten würde, und noch sah ich so gut wie gar
    keine Entwicklung in der Erfahrung dieses Patienten. Angesichts dessen beschloß ich, das anscheinend sinnlose Karussell der Imaginationen durch Verabreichung von Kohlendioxyd
    kurz zu unterbrechen in der Hoffnung, daß das Inhalieren des
    Gases die Egofunktion vorübergehend schwächen und bislang
    im
    Unterbewußtsein
    begrabenes
    Material
    zutage
    fördern
    werde. Es zeigte sich, daß der Patient nicht mehr als zehn Züge
    zu ertragen vermochte: Er bekam das Gefühl, als ob er - der
    großspurige Riese - in einer Röhre nach oben und sein Kopf
    mit ungeheurer Gewalt gegen die Decke gepreßt würde. Das
    werde ihm den Schädel brechen!
    Nach dieser Anwandlung von Ohnmacht und Todesfurcht trat
    ein Wandel in seinen Empfindungen wie auch in bezug auf den
    Inhalt seiner Mitteilungen ein. Nicht nur durchschaute er nun
    den Feldwebel, der andere einschüchterte und ihnen drohte,
    um sich selbst das Gefühl der Sicherheit zu verschaffen, sondern er nahm auch das der Tyrannei des Feldwebels unterstellte Kind wahr - ein Wesen, das sich nach Zuwendung und Liebe
    sehnte, jedoch nicht wagte, anderen dies zu erkennen zu geben.
    Jetzt tauchte der Riese mit seinem gewaltigen Brustkasten über
    kurzen Beinen, bekleidet mit kurzen Kinderhosen, vor seinem
    inneren Auge auf. Ein Strom von Erinnerungen setzte nun ein;
    es war eine Art Beichte, bei der sich der Patient nach und nach
    zu seiner Schwäche, Schuld und Unsicherheit bekannte.
    Weil ich fürchtete, ich müßte die Sitzung abschließen, ehe ein
    definitiver Punkt erreicht war, wandte ich noch einmal CO2 an.
    Diesmal war das Ergebnis weitaus dramatischer; er geriet in
    einen Zustand der Ekstase, unter deren Nachwirkung er noch
    den ganzen übrigen Tag verblieb: Am anderen Ende der Röhre
    konnte er die Sonne sehen!
    226

    So verbrachte der Patient die folgende Stunde in einem Zustand, den man am besten als Anbetung der Sonne bezeichnen könnte. Nicht der physikalischen Sonne, die bereits untergegangen war, noch einer halluzinierten Sonne, sondern dessen, was immer sie symbolisieren mag. Wir saßen noch lange beisammen, schweigend, nur ab und an ein Wort wechselnd, und auch vor meinem inneren Auge schwebte über unseren Köpfen
    die Sonne fast spürbar im Raum, denn auch ich wurde von der
    Ergriffenheit des Patienten, von der tiefen Dankbarkeit erfüllt,
    die er für sie, die Quelle allen Lebens empfand.
    Ich habe zuvor darzustellen versucht, wie nicht nur unter Ibo-
    gain, sondern auch unter Harmalin-Wirkung ein gegebenes
    Thema entweder als Bildsequenz erlebt oder lediglich kontem-
    pliert werden kann, mit deren Inhalt sich der Analysand freilich
    selten identifiziert. In diesem letzten Beispiel sind wir meiner
    Meinung nach Zeuge einer Wiederholung jener Urerfahrung
    gewesen - im Sinn des Ewigen und nicht des Zeitlichen aus
    der sich alle Sonnenmythen sowie die Idee der Identität von
    Gott und Licht herleiten. In den meisten Sprachen blieb die
    Sinngleichheit beider Worte bis heute erhalten.
    Den Rest des Tages hielten wir noch Rückschau auf seine
    Erfahrung - ein Kompendium seines Lebens. Der Gorilla in
    ihm, der Feldwebel, der große Mann, er sollte für den Patienten
    nicht tragbare Schwächen und Schuldgefühle verbergen. Ein
    Großteil davon war nichts anderes als Liebesbedürfnis bei
    gleichzeitiger Angst, dieses Bedürfnis zu erkennen zu geben,
    während die Schuldgefühle weitgehend aus dem Sexualbereich
    herrührten. Die vor mir ausgebreitete Lebensbeichte bestand
    größtenteils in der Geschichte seines Geschlechtslebens. Dieses
    Thema zog sich wie ein roter Faden durch die gesamte Sitzung.
    »Wie kann ich Sex und Sonne in Einklang bringen?« sagte er,
    der sich mit zwei seiner Meinung nach unvereinbaren Welten
    konfrontiert zu sehen glaubte: der des reinen Geistes und der
    des Fleisches. Doch seine Skrupel zerstreuten sich bald, und
    dann brach folgende Erkenntnis aus ihm heraus: »Der erigierte
    Penis weist ja auch
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