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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich
Autoren: Claudio Naranjo
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Körperhaftigkeit ausdrückt, so schafft
    sich der künstlerische Geist im Kunstwerk Ausdruck, ist aber
    nicht mit dessen spezieller Form identisch. Und je mehr wir uns
    in ein literarisches Werk vertiefen, desto enger wird der Kon23

    takt mit dem Geist des Autors, der sich in dessen Stil offenbart.
    Eines der tiefsten Kunsterlebnisse indes vermittelt uns die im
    Kunstwerk sich äußernde Wesensliebe, sei es bei bach, dostojewski oder van gogh oder wer sonst aus dem »Geist« geschaffen hat und nicht nur aufs Geratewohl Zeit und Raum dekoriert. (Um dieses Geistes wirklich teilhaftig zu werden, müssen wir eins sein, und nicht nur eine zusammengewürfelte Folge von
    Zuständen an jenem Ort, den wir »Ich« nennen).
    Auch ein geliebter Gegenstand kann für uns Wesenhaftigkeit
    jenseits seiner physischen Erscheinung erlangen, sei diese
    schön oder nicht. Und vielleicht war es gerade diese Liebe zu
    den Dingen, die gauguin zu dem Ausspruch bewegte, »Nicht
    jedes Ding ist hübsch, aber immer ist es schön.« Damit will ich
    nicht sagen, daß in den Gegenständen so etwas wie eine Ob-
    jekt-Seele wohne, sondern auf die Qualität der eigenen möglichen Erfahrung hinweisen. Für den einen ist der Gegenstand nichts als ein Agglomerat physischer Qualitäten, ein anderer
    personifiziert sich zu gewissem Grad mit ihm und hat zu ihm
    eine innere Beziehung, zum Beispiel zu einem Geschirr, das er
    mit liebender Sorgfalt reinigt, oder zu einem alten Pullover, von
    dem er sich nicht trennen mag.
    So wie ein Wesen Gegenstand der Liebe sein kann, ist das
    Wesen an sich darüber hinaus Gegenstand von Empfindungen,
    die man als »heilig« bezeichnen mag, als Ergriffenheit vor dem
    Wunder des Seins, gleich in welcher Form, als Mysterium, als
    Gabe jener bejahenden Kraft, die diese Welt geschaffen hat:
    jene »Istigkeit«, wie meister eckhart es nannte.
    Und so wie wir nicht die Gabe besitzen, in allen Formen das
    Schöne zu sehen oder alle Wesen zu lieben, ist unsere Wahrnehmungsfähigkeit auch insofern begrenzt, als wir die Istigkeit oder Wesenhaftigkeit nur bestimmter Wesen, Dinge, Klänge,
    Personen empfinden; sie erregen in uns religiöse Gefühle, mögen diese mit Gottesvorstellungen oder konventionellen religiösen Konzepten verbunden sein oder nicht.
    Wenn der Gipfel der Erfahrung in der Begegnung mit inneren
    Werten besteht - von der elementaren Bejahung perzeptueller
    Data, von Schönheitserlebnissen und intensiven Liebesgefüh-
    len bis zur Bejahung der Erfahrung als solcher, der Bejahung
    als dem gemeinsamen Grund aller Dinge -, wie sieht es dann
    am anderen Ende der Skala zwischen Himmel und Hölle aus?
    Oberflächlich und deskriptiv betrachtet, äußert es sich in einer
    Steigerung von in der psychiatrischen Tradition nur zu bekann24

    ten Syndromen: in psychosomatischen Demonstrationen oder
    Umwandlung verdrängter Affekte, Angstreaktionen oder Depressionen,
    Verstärkung
    pathologischer
    Charakterzüge,
    vor
    übergehender Katatonie, sogenanntes Spaltungsirresein und so
    fort.
    Nach tieferem Eindringen in die Materie würde ich vorschlagen, in diesen Zuständen nichts anderes als die Endresultate einer Verneinung der inneren Werte zu sehen. Wertung und
    Würdigung in jeder Form und auf allen Ebenen ist eine lebensbejahende Macht, die nicht nur ein Ja-Sagen zur Welt beinhaltet, sondern unsere einzige wahre Lebensmöglichkeit darstellt.
    Neben diesem Ja-Sagen zum Leben gibt es auch ein aktives
    Nein-Sagen, eine Leugnung jener Macht, die eine Wand vor der
    inneren Daseinsfreude errichtet und uns zur Liebe und allen
    Empfindungen unfähig, und »untreu« gegenüber jenen Gefühlen macht, die in uns Ehrfurcht vor der Existenz als solcher wachrufen könnten.
    Die Drögeneinwirkung läßt den psychischen Aspekt der Person
    lediglich stärker hervortreten. Je nachdem, ob ein Mensch imstande ist, dies zu akzeptieren oder nicht, wird er ein Werterlebnis haben oder in eine Konfliktsituation geraten - den Konflikt zwischen seinem Höhenstreben und der Leugnung seines unterbewußten Selbst. Solch ein Konflikt kann natürlich Verdrängung, symbolische Ersatzhandlungen, optische Reaktionen und Enthemmungsängste hervorrufen.
    Dennoch ist solche Erfahrung von Wert, da sie eine abnorme,
    oft dramatische Kollision der inneren Kräfte herbeiführt, wobei
    der Konflikt bloßgelegt, erkannt und schließlich gelöst werden
    kann. Die Aufdeckung des Konflikts - der im Grunde eine
    Frage von Sein oder Nichtsein, des
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